Frankreich will endlich wieder zurück zur Normalität

Vor einem Jahr, am 13. November, wurde Paris durch die Terroranschläge rund um das Konzertlokal Bataclan erschüttert. Seither hat sich für die Franzosen vieles verändert. Vor allem hat die Nation der Lebenskünstler ihre Unbeschwertheit verloren.

Seit einem Jahr herrscht in Frankreich der Ausnahmezustand.

(Bild: IAN LANGSDON)

Vor einem Jahr, am 13. November, wurde Paris durch die Terroranschläge rund um das Konzertlokal Bataclan erschüttert. Seither hat sich für die Franzosen vieles verändert. Vor allem hat die Nation der Lebenskünstler ihre Unbeschwertheit verloren.

Sieben Minuten lang, sieben geschlagene Minuten lang dauerte das Gewehrfeuer. Dann rief eine unidentifizierte Stimme: «Steh auf oder ich bring dich um.» So brach der Horror über ein Rockkonzert herein, laut einem Diktaphon, das ein Besucher des Rockkonzertes vom 13. November im Bataclan anstellte, als die drei Terroristen mit Kalaschnikows in den Saal stürmten.

Es folgen zwölf weitere Minuten eiskalten, methodischen Tötens, unterbrochen von den absurden Selbstrechtfertigungen mit der IS-Ideologie. Ein Albtraum, blankes Grauen jenseits des menschlichen Fassungsvermögens. Bilanz: 90 Tote im Bataclan, 40 auf umliegenden Bistro-Terrassen und beim Stade de France. Mehr als 400 Verletzte.

Zwischen Trotz und Vorsicht 

Das Leben geht zum Glück weiter wie die Zeit: Ein Jahr später, an diesem Samstag, dem 12. November, will der Musiker Sting den renovierten Saal mit einem Konzert wiedereröffnen. Die 1500 Karten waren in weniger als einer Stunde ausverkauft – mit ein trotziges Zeichen, dass die Franzosen weiterleben und feiern wollen im Ausgehviertel zwischen République und Bastille. 

Im Bistro Le Carillon, wo an jenem Freitagabend 15 Menschen starben, hat der viel beschäftigte neue Wirt hinter der Bar keine Zeit für Auskünfte. «Lassen wir das hinter uns», sagt er nur. Im Schaufenster des benachbarten Weinladens steht auf einer lustigen Etikette: «Durst nach Vergnügen.» Gleich um die Ecke programmiert das Kleintheater Laurette «Die Hölle» – eine Komödie über Schwiegermütter. Daneben hängt ein kleiner Zettel: «Voluminöse Taschen und Accessoires werden systematisch zurückgewiesen.»

Grégory, mit einer Leuchtweste der städtischen Dienste bekleidet, hilft Primarschülern über den Fussgängerstreifen vor dem Carillon. Gutgelaunt schüttelt er den passierenden Müttern sogar die Hand. Die vier mit Sturmgewehren patrouillierenden Soldaten grüsst er mit einem herzhaften «Bonjour les gars!»

Das Quartett ist schon um die Ecke, als ein Knall die Passanten aufschrecken lässt. Entwarnung: Es war nur der niederfallende Deckel einer Mülltonne, in dem ein Obdachloser Essbares sucht. 

Das Leben nimmt im 10. und 11. Bezirk von Paris seinen Lauf. In den Schaufenstern der Buchhandlungen sieht man den Comic eines «Überlebenden» und mehrere Bücher von Opferangehörigen. Das bekannteste, von Antoine Leiris, der seine Frau Hélène im Bataclan verloren hat, trägt den Titel: «Ihr werdet meinen Hass nicht kriegen.»

Verdrängte Leichtigkeit

An die Soldaten hat sich das Bohème-Viertel längst gewöhnt. Auch auf der Terrasse der Brasserie La Bonne Bière schauen die Leute gar nicht mehr hin, wenn eine Patrouille zirkuliert. An die 100’000 Polizisten, Militärs und Reservisten sind landesweit im Antiterroreinsatz. Seit einem Jahr gilt der Ausnahmezustand, erneuert nach dem Anschlag von Nizza im Sommer.

Innenminister Bernard Cazeneuve hat zum Jahrestag der Anschläge die neusten Zahlen präsentiert: 4000 Hausdurchsuchungen wurden durchgeführt, 500 Radikalislamisten verhaftet. 95 bleiben mit Hausarrest belegt, 80 wurden des Landes verwiesen; 430 Franzosen wurden an der Abreise in den Dschihad in Syrien gehindert. 20 salafistische Moscheen wurden geschlossen.

Paris soll in Frieden leben: Dieses Symbol ging vor einem Jahr um die Welt.

Der bekannte Kinderpsychiater Marcel Rufo meint, auch die Kinder hätten «das Leben mit erhöhtem Sicherheitsniveau integriert». Das Bildungsministerium hat zum Schulbeginn in diesem Herbst eine siebenseitige Broschüre verteilen lassen, in der zum Beispiel das Verstecken in Kartonkisten gelehrt wird, wenn ein Bösewicht kommt. Die kleinen Franzosen lernen darin auch, auf Befehl wie eine Wachsfigur stillzustehen oder loszurennen. 

So beginnt Frankreich nach dem Schock mit der Langzeitbedrohung zu leben. Polizei, Reservearmee und die von Präsident François Hollande neu geschaffene Nationalgarde haben grossen Zulauf.

Die Behörden schaffen Zentren zur «Deradikalisierung» und experimentieren mit Islamisten-Abteilungen in Gefängnissen (derzeit werden sie gerade wieder einmal aufgelöst) und verhindern nach Möglichkeit die Beerdigung von Attentätern in französischen Friedhöfen. 

Viele Firmen wie die Pariser Metrobetriebe sondern Islamisten aus; Air France entfernt sie auch aus den privaten Zulieferfirmen, die teils Gepäck befördern und Zugang auf das Flugfelder haben.

Sehnen nach der «Ville de l’amour»?

Die Tourismusbranche leidet seit dem «13. November» unter einem Besucherrückgang von acht Prozent in Frankreich, elf Prozent in Paris; Nationalitäten wie die Japaner bleiben zu 30 Prozent aus.

Über diese Imagekatastrophe für die romantische Lichterstadt sprechen die Verantwortlichen auch sehr ungern. In den Krisensitzungen mit der Regierung verlangen sie aber mit Nachdruck die Aufhebung des Notrechtes, das die Reiseveranstalter vor Versicherungsprobleme stellt.

Präsidentschaftskandidaten mit Extremvorschlägen stossen auf weniger Echo, als man meinen könnte.

Im Januar könnte der Ausnahmezustand auslaufen. Hollande hatte ihn schon im Juli aufheben wollen – um ihn nach dem Anschlag in Nizza gleich wieder zu verlängern. Alle hoffen, dass jetzt wirklich Schluss sein wird mit den Attentaten und den Trauerzeremonien, den nächtlichen Sirenen und den Soldaten in der Strasse. Frankreich will endlich zur Normalität zurückkehren.

Wohl aus diesem Grund stossen Präsidentschaftskandidaten wie Nicolas Sarkozy oder Marine Le Pen mit ihren Extremvorschlägen auf weniger Echo, als man meinen könnte.

Wahlfavorit ist Alain Juppé, der gemässigter, überlegter wirkt. Le Pen setzt nun allerdings auf einen Trump-Effekt. Und die Terrorangst seit dem «13. November» wird ihr sicher auch nicht schaden.

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