Sie sind nicht mehr richtig links, wollen aber auch nicht ganz rechts sein: Von Michel Onfray über Alain Finkielkraut bis zu Michel Houellebecq geraten immer mehr französische Intellektuelle ins Fahrwasser des Front National. Und das nicht nur wegen der Flüchtlingskrise.
Michel Onfray ist der Inbegriff des französischen Denkers: ein brillanter Theoretiker und dazu ein libertärer Lebemann, dessen auf Deutsch übersetzte Werke – ein Bruchteil seiner reichen Produktion – Titel tragen wie «Die geniesserische Vernunft» oder «Philosophie der Ekstase». Der 56-jährige Gründer einer Volksuniversität in der Normandie-Metropole Caen ist zudem Atheist und Sozialist, Schopenhauer-Doktorand und Freud-Kontrahent, polemisch und populär.
Und ein klein wenig populistisch. Denn nun steht ein Verdacht im Raum, lanciert von der Zeitung «Libération», dem Blatt der Pariser Bobos, mit denen Onfray seit jeher auf Kriegsfuss steht. Ein schrecklicher Verdacht, einer, der den politischen und medialen Tod bedeuten kann: Onfray mache sich die Thesen des rechtsextremen Front National (FN) zu eigen.
Rechte profitieren von Bestsellern
In diversen Stellungnahmen, darunter einem Interview mit der konservativen Zeitung «Le Figaro», hatte er erklärt, Themen wie Immigration und nationale Identität würden von den etablierten Parteien zu unrecht gemieden, da sie für das «Volk» durchaus von Belang seien. Der Tod des Flüchtlingskindes Aylan sei eine «Manipulation», die Emotionen für die Flüchtlingsaufnahme schüren solle; die «jüdisch-christliche» Gesellschaft werde durch den Islam bedroht, die Souveränität Frankreichs durch die EU.
Für solche Aussagen kritisiert, fügte Onfray halsstarrig an, er habe lieber eine «richtige Analyse» von Alain de Benoist, einem Ideologen der Neuen Rechten, als eine «falsche Analyse» von Bernard-Henri Lévy, dem salonlinken Starphilosophen. Das war eine politisch höchst unkorrekte Abwandlung des 68er-Dogmas, dass es besser sei, mit Jean-Paul Sartre daneben zu liegen als mit dem Konservativen Raymond Aron recht zu haben.
Durch das Pariser Literatenviertel zieht sich ein neuer Graben. Onfray ist keineswegs allein.
Onfray provozierte mit seinen Ausführungen fast den Bannstrahl der «bien-pensance», wie er das gerade gültige Einheitsdenken in Saint-Germain-des-Prés abschätzig nennt. Durch das Pariser Literatenviertel zieht sich ein neuer Graben. Onfray ist keineswegs allein. Zu ihm halten «neue Reaktionäre» – meist ehemalige Maoisten – wie Eric Zemmour oder Alain Finkielkraut. Sie dominieren die Bestsellerlisten mit Schriften über die Kapitulation des Westens vor den moslemischen Flüchtlingen, Immigranten und Banlieue-Terroristen.
Starautor Michel Houellebecq schockt in seinem neuen Buch «Unterwerfung» mit der Vision eines islamisierten Frankreichs und sagt ferner voraus, je mehr die Medien den FN bekämpften, desto stärker werde dieser. Auftrieb erhalten die Rechtsextremisten zweifellos auch durch das neuste Islamisierungs-Horrorszenario des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal. Sein Roman namens «2084» beherrscht bereits den Pariser Bücherherbst.
Marine Le Pen applaudiert
Derweil verlangt der linke Ökonom Jacques Sapir eine «nationale Befreiungsfront» aller Souveränisten, also einschliesslich des FN, für einen Euro-Austritt. FN-Chefin Marine Le Pen twitterte, sie sei «sehr glücklich» über die Initiative. Dies, nachdem sie schon Houellebecqs neues Buch als «sehr interessant» bezeichnet hatte. Sapir versucht sich dem Spinnenkuss zu entziehen, indem er erklärt, er könne Le Pen ja nicht verbieten, sich seine Thesen anzueignen: «Wenn sich Hitler auf Nietzsche bezog, heisst das nicht, dass Nietzsche ein Hitlerianer gewesen wäre.»
Onfray kann da nur zustimmen. «Es ist eine gute Idee, die ‹Souveränisten› der beiden politischen Lager zu vereinen, denn Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon (den Linkenchef, die Red.) teilen zahlreiche Standpunkte», meinte er. Zwar betont Onfray, er stehe nach wie vor für einen «libertären Sozialismus» ein, kämpfe er doch gegen die Todesstrafe und für Abtreibung und Homoehe. Aber gleichzeitig verteidigt er Marine Le Pen mit dem Vorwurf an die Medien, sie zweifelten an der Aufrichtigkeit der FN-Präsidentin, die Auschwitz als das grösste Verbrechen des 20. Jahrhunderts bezeichnet habe. Sicher ist: Wenn Jean-Marie Le Pen die Gaskammern des Zweiten Weltkriegs früher als «Detail der Geschichte» bezeichnet hatte, nahm ihn seine Tochter stets in Schutz.
«Gegen die Vereinnahmung ist man machtlos.»
Am 20. Oktober lädt Onfray seine Anhänger und Sympathisanten zu einem Unterstützungstreffen in die Pariser Mutualité, einen historischen Versammlungsort der Linken. Bereits zugesagt haben Politiker wie Jean-Pierre Chevènement, aus dessen linksnationaler «Bürgerbewegung» (MDC) einige Exponenten zum FN übergelaufen sind, aber auch Starintellektuelle wie Finkielkraut, Régis Debray, Pascal Bruckner oder Jean-François Kahn. Marine Le Pen wäre gewiss auch gerne gekommen. Wie aber ihre Nichte Marion mit entwaffnender Offenheit sagte: «Wenn sich Onfray mit ihr an einen Tisch setzt, käme er umgehend an den Pranger.»
Grosszügig halten sich die Frontisten auf Distanz, um die Neonationalisten um Onfray nicht in die Bredouille zu bringen. Marine Le Pen weiss, dass die Zeit für sie arbeitet: Bei fünf Millionen Arbeitslosen und Ausgesteuerten fallen in Frankreich ganze Regionen an den Stadträndern und dem entvölkerten Land dem Elend anheim – und damit den Lepenisten in die Hände. Der Geograph Christophe Guilluy beschrieb dieses Phänomen in einem viel beachteten Buch namens «Das periphere Frankreich». Le Pen spendete ihm sogleich Applaus für diese Analyse des unaufhaltsamen FN-Vormarsches. Der den Sozialisten nahestehende Guilluy meinte resigniert: «Gegen die Vereinnahmung ist man machtlos.»
«Nationale» Ader der französischen Linken
Das Gleiche kann Emmanuel Todd von sich behaupteten. Der bekannte Demograph kam im Mai ebenfalls zum Schluss, dass sich die regierenden Sozialisten von der Arbeiterklasse der Einwanderervorstädte und der sich leerenden Landregionen verabschiedet hätten. Bei den Monsterdemos nach den Attentaten auf die Charlie Hebdo-Redaktion hätten vor allem Kaderangestellte und Salonlinke teilgenommen, kaum aber Arbeiter oder Immigranten.
All diese Intellektuellen in die Kategorie der «objektiven Verbündeten» einzuordnen, wie das Marine Len Pen tut, wäre verfehlt: Guilluy oder Todd sind bloss die Überbringer der schlechten Nachricht vom FN-Aufstieg. Bei Onfray, Finkielkraut oder Houellebecq liegen die Dinge nicht so klar. Ihr Flirt mit der Front oder zumindest ihren Ideen ist bereits ein Dammbruch für Frankreich.
Schaut man indes genauer hin, ist es eher der FN, der sich auf diese Intelligenzia zubewegt, als umgekehrt.
Wie der einstige Mitterrand-Minister Chevènement zeigt, hatte die französische Linke allerdings schon immer eine «nationale» Ader; schon 1789 und in den folgenden Revolutionskriegen galten die Sansculotten als die eigentlichen Patrioten, die flüchtenden Aristokraten hingegen als Vaterlandsverräter. Die im Delacroix-Gemälde «Die Freiheit führt das Volk» verewigte Nationalfigur Marianne leiht ihren Namen noch heute einem linken Wochenmagazin – das den Solidaritätsabend mit Onfray federführend mitorganisiert.
Schaut man indes genauer hin, ist es eher der FN, der sich auf diese Intelligenzia zubewegt, als umgekehrt. Anders als ihr wirschaftsliberaler Vater verfolgt Marine Le Pen einen betont sozialen Kurs: Sie verlangt ein höheres Mindesteinkommen für die Arbeiter und höhere Steuern für die Reichen.
Rotbraune Aussichten
Auf jeden Fall bewegen sich rechte und linke Nationalisten nicht nur in Griechenland – wo sie an der gleichen Regierung beteiligt sind –, sondern auch in Frankreich aufeinander zu. Das gilt für die ganze Flüchtlings-, Migrations- und Islamfrage, aber vor allem auch für die Wirtschaftspolitik. Unisono kämpfen Rechts- und Linksfront gegen den angeblich von Deutschland aufgezwungenen Austeritäts- und Sparkurs.
Der eigentliche politische Graben verläuft in Paris heute zwischen ihnen und den etablierten, europhilen Kräften, den Sozialisten und Republikanern, die heute eine sehr ähnliche Wirtschaftspolitik verfolgen. Politisch dominieren aber die neuen Links- und Rechtspopulisten. Solange Frankreich nur mehr schwache Präsidenten wie Nicolas Sarkozy und François Hollande hervorbringt, wird Marine Le Pen weiter zulegen. Am Horizont winkt in Paris eine rotbraune Revolution.