«Fremde Richter» – die Karriere eines Reizworts

Laut Initianten der Selbstbestimmungs-Initiative stimmen wir am 25. November über die Unabhängigkeit unseres Rechts ab. Doch eigentlich geht es um die Frage, ob der populistischen Geringschätzung dieses Rechts ein Riegel geschoben werden kann.

In diesem Gebäude in Strassburg sitzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Sämtliche 47 Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind – nach schweizerischen Vorstellungen – «fremden Richtern» ausgesetzt. In der Schweiz jedoch wird das von nationalistischen Landesverteidigern als besondere Zumutung eingestuft und skandalisiert. Dabei greifen diese Kräfte auf eine Formulierung zurück, die im sogenannten Bundesbrief von 1291 verwendet worden ist, dem zur Gründungscharta stilisierten Abkommen zwischen den alten Orten Uri, Schwyz und Unterwalden.

Dieser Rückgriff ist falsch. Der Vertrag meinte nicht Richter im heutigen Sinn, sondern Statthalter auswärtiger Mächte, unter deren Aufsicht von lokalen Männern Recht gesprochen wurde.

Rechtshistorische Berichtigungen vermögen dem Schlagwort aber nichts anzuhaben. Der Volksverführer Christoph Blocher liebt den Begriff und wird sich von seiner falschen Verwendung nicht abbringen lassen. 1992 spielte er in seinem Kampf gegen den EWR eine zentrale Rolle. Vom Albisgüetli aus wandte er sich mit der stark suggestiven Frage an seine Anhängerschaft: «Haben wir 700 Jahre lang gegen ‹fremde Richter› gekämpft, haben wir uns 700 Jahre lang für eigene Richter eingesetzt…?»

Diese später gebetsmühlenartig wiederholte Formel kann auch darum nicht zutreffen, weil man nicht 700 Jahre lang gegen etwas kämpfen konnte, das es über diese Jahrhunderte gar nicht gab. Und nochmals falsch ist die Meinung, dass eine missverstandene Verhaltensregel aus dem 13. Jahrhundert im 21. Jahrhundert unter gänzlich anderen Verhältnissen wegleitend sein soll.

Schweizer Richter für Liechtenstein

Seit 2013 wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) vermehrt als «fremdes Gericht» abqualifiziert, was ebenfalls falsch ist. Ein Gericht, dem man 1974 freiwillig und formal korrekt beigetreten ist, kann gar nicht fremd sein. Hinzu kommt, dass die Schweiz mit dem Basler Völkerrechtler und Altrektor Luzius Wildhaber während zehn Jahren (1998–2007) sogar den Präsidenten stellen konnte.

Die Schweiz ist in diesem Gericht übrigens doppelt anwesend, weil Schweizer seit 1998 zusätzlich den Liechtenstein zustehenden Sitz einnehmen: Lucius Caflisch war bis 2006, Mark Villiger bis 2016 und Carlo Ranzoni ist derzeit ein «fremder Richter» für das Ländle. Zudem war die Schweiz mit dem Walliser alt Nationalrat Antoine Favre (CVP) schon von 1963 bis 1974 an diesem Gerichtshof vertreten – zu einer Zeit, als sie sich dem EGMR noch gar nicht unterstellt hatte.

Gemeint ist irgendwelche Fremdheit nach der primitiven Unterscheidung zwischen «uns» und den «anderen».

Eigentlich müssten wir diejenigen, die gerne das Gespenst der «fremden Richter» heraufbeschwören, gar nicht ernster nehmen, als sie es selber tun. Sie meinen nämlich nur teilweise irgendwelche Gerichtspersonen, sondern oft auch nur «fremde Mächte» oder «neuzeitliche Vögte». Gemeint ist irgendwelche Fremdheit nach der primitiven Unterscheidung zwischen «uns» und den «anderen».

Ohne dass sie Richter wären, wird auch in bestimmten Gestalten das personifizierte Böse gesehen, etwa in den EU-Kommissaren – früher in Delors, jetzt in Juncker, morgen vielleicht im Deutschen Manfred Weber, im Finnen Alexander Stubb oder in der Dänin Margrethe Vestager, als Ökonomin ausgebildete Pfarrerstochter aus Westjütland.

Eine gegen den EGMR gerichtete SVP-Karikatur von 2015 zeigt lauter männliche Richterpersonen. Eine «fremde Richterin» wäre doch einmal was Neues, vielleicht auch besonders Enervierendes. Frauen gibt es bereits im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: «Unsere» Helen Keller, Professorin der Universität Zürich, darf mit anderen Frauen (zum Beispiel Angelika Nussberger aus Deutschland) über Klagen aus anderen Ländern mitentscheiden.

Im Visier sind auch eigene Richter, insbesondere die Mitglieder des Bundesgerichts in Lausanne. SVP-Nationalrat Thomas de Courten, der demnächst dem Baselbiet als Regierungsperson zugemutet werden soll, erklärte Ende 2015 während der Sammelaktion für die Selbstbestimmungsinitiative: «Die ‹fremden Richter› hocken (…) bereits in Lausanne. Höchste Zeit, dass wir sie an die Kandare nehmen und (…) daran erinnern, dass in der Schweiz die Bundesverfassung das oberste Recht darstellt.»

In der Initiative geht es um die grundsätzliche Haltung zum Verhältnis von Macht und Recht.

Der hier zum Ausdruck kommenden Mentalität geht es jedoch gar nicht um die Verfassung in ihrer Gesamtheit, sondern nur um ihre eigenen höchst bedenklichen Volksinitiativen. Die werden, wenn angenommen, leider zu einem Teil dieser Verfassung, auch wenn sie zu ihr teilweise im Widerspruch stehen.

Gerne wird auch, gestützt auf sonderbare Zahlenakrobatik, gesagt, dass ein von Millionen gefällter «Volksentscheid» schon wegen der schieren Menge der Beteiligten das bessere Resultat sei als ein von nur 38 Mitgliedern – 14 Frauen und 24 Männern – gefälltes Urteil. Der wesentliche Unterschied liegt jedoch darin, dass im einen Fall grosse Willkür ohne jede Begründungspflicht am Werk sein kann und im anderen die Richter an Gesetze und Vereinbarungen gebunden sind und ihre Urteile minutiös begründen müssen.

Zudem können in der einen Variante grobe Mehrheiten massgebend sein, während in der anderen Rücksicht auf Minderheiten möglich ist. Hier zählt nicht einfach Macht, sondern Recht. In der Volksinitiative, über die am 25. November entschieden wird, geht es um die grundsätzliche Haltung zum Verhältnis von Macht und Recht und um die Frage, ob der populistischen Geringschätzung von Recht ein Riegel geschoben werden kann.

Kleine Länder profitieren

1992 stellte der für die Justiz zuständige Bundesrat Arnold Koller bedauernd fest, dass «in unserer durch Jahrhunderte gewachsenen Demokratie die politische Ausmarchung der Konflikte immer Vorrang gegenüber der rechtlichen Streiterledigung gehabt» habe. Und der spezifische Abwehrreflex gegen die Richterfigur habe «geradezu mythologische Bedeutung». Diesen Reflex will die Selbstbestimmungsinitiative ansprechen und nutzen. Es sind die rechtspopulistischen Kräfte, die meinen, dass man einem Volksabsolutismus freien Lauf lassen kann.

Mit der schiefen Gegenüberstellung von Landesrecht und Völkerrecht sind die Initianten bereit, internationale Bindungen gegen innenpolitische Ungebundenheit auszutauschen. Damit missachten sie, dass die Schweiz – gerade weil sie als Kleinstaat der Vorherrschaft der Macht von grösseren Staaten ausgesetzt sein könnte – an der Austragung von Konflikten auf der Basis des Rechts interessiert ist. Das würde übrigens auch im Falle des umstrittenen Rahmenabkommens mit der EU eher für rechtliche als für diplomatische Prozedere sprechen.

Das könnte sogar so weit gehen, dass vom «fremden» Europäischen Gericht (dem EuGH) erwartet würde, dass es im Konfliktfall nicht automatisch der EU Recht gäbe, sondern unter Umständen auch der Gegenseite. So äusserte Ueli Maurer im Januar 2018 die Idee, die Schweiz könnte wegen der von der EU angeordneten Beschränkung des Schweizer Börsenhandels den EuGH anrufen. Der für die Bundesfinanzen zuständige Bundesrat ist ehemaliger Präsident der SVP, die sich den Kampf gegen «fremde Richter» auf ihre Fahne geschrieben hat.

«Fremde Richter» werden fast beliebig in die politische Arena geschickt – so wie 1985 gegen das neue Eherecht.

In der Debatte um den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention erinnerte 1974 auch der Überfremdungspolitiker James Schwarzenbach an die «fremden Richter». Es störte ihn vor allem die Möglichkeit, dass in Strassburg aus der schweizerischen Bevölkerung mit dem Recht auf Individualbeschwerde gegen die Schweiz geklagt werden könnte. Damit würde eine «Beschneidung unserer garantierten Souveränität» eintreten, so Schwarzenbach.

Ein weiteres Mal wurden die «fremden Richter» 1985 in die politische Arena geschickt, als die antimodernen Kräfte des Landes das neue Eherecht bodigen wollten. Das war sehr aufschlussreich, weil es zeigte, wie fast beliebig «Fremdheit» ins Spiel gebracht werden kann. Damals wurde auf dem Kampagnen-Plakat eine wenig sympathische Richterperson ins Ehebett gesetzt. 1992 warnten dann die EWR-Gegner vor dem «fremden Richter» im gesamtschweizerischen Bett. Die Abneigung gegenüber Richtern, ob eigen oder fremd, führt schliesslich zur Warnung vor einem Richterstaat, in dem die Judikative die Legislative und in der Schweiz den Volkslegislator dominieren könnte.

Emotionaler Überschuss

Wer diesem Kampfbegriff entgegentreten will, kommt schwerlich darum herum, ihm in der Debatte mit seiner Ablehnung selber Raum zu gewähren und so indirekt dazu beizutragen, dass er am Leben bleibt. Die «fremden Richter» lassen sich nicht aus der Welt schaffen. Die Figur ist gesetzt und wird auch durch die Medien weiter am Leben gehalten. Wichtig ist aber zu unterscheiden, ob das Stereotyp unkritisch übernommen oder auf seinen Realitätsgehalt und seine Relevanz überprüft wird.

Das Schlagwort hat auch die Funktion eines Zauber- und Reizwortes. Für die leichte Reizbarkeit mag es sozialpsychologische Gründe geben. Medienlinguistiker haben festgestellt, dass mit dem repetitiven Einsatz von Schlüssel- und Reizwörtern so etwas wie ein Priming­-Effekt angestrebt wird. Man setzt auf einen ersten Reiz (Prime), der alles Weitere massgeblich beeinflussen soll. Begriffe mit unbewussten Wertungen werden mit Vorliebe weitergetragen und lassen Wegspuren im öffentlichen Diskus entstehen, die in weiteren Äusserungen gerne übernommen werden.

Der emotionale Überschuss aber, der in der Formel der «fremden Richter» steckt, steht im Widerspruch zum gerade in der Schweiz gerne zur Nationaltugend erklärten Pragmatismus.

Georg Kreis: «Fremde Richter. Karriere eines politischen Begriffs». Verlag hier & jetzt, 2018. 130 Seiten.

Die Welt schaut auf die Schweiz

https://tageswoche.ch/politik/selbstbestimmungs-initiative-europaeische-richterin-warnt-vor-gefaehrlichem-dominoeffekt/
https://tageswoche.ch/+UVIR0

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