Während die Krim in einem inszenierten Referendum über die Abspaltung von der Ukraine entscheidet, harren auf dem Maidan in Kiew noch immer viele Revolutionäre aus. Parallel bilden sie eine neue Nationalgarde zur Verteidigung ihres Landes.
Beissender Qualm wabert über den Maidan. In dicken Wolken quillt er aus den Blechrohren der Feldküchen und Schlafzelte. Die Schwaden mischen sich mit dem Geruch von kaltem Rauch, der aus dem russgeschwärzten Gemäuer des Gewerkschaftshauses dringt. Das markante Gebäude an der Nordseite des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes war während der Strassenschlachten Ende Februar in Flammen aufgegangen.
Drei Wochen ist das nun her. In diesen sonnigen Märztagen wirken die Barrikaden aus Autoreifen, Pflastersteinen und Schrott, die sich noch immer rund um den Maidan auftürmen, wie eine Filmkulisse. Überall machen verspätete Revolutionstouristen Handyfotos. Fast unbemerkt pinselt ein angeseilter Kletterkünstler rosarote Kleckse auf die verkohlte Fassade des Gewerkschaftshauses. Nun sieht die Ruine aus, als hätten dort überdimensionierte Farbgeschosse von Paintball-Kämpfern eingeschlagen – und das ist auch der Sinn der Aktion.
Hunderte harren aus
Die Kunst am zerstörten Bau ist Teil des Gedenkens an die rund 100 Toten des Maidan-Aufstandes. Im Februar hatten Scharfschützen in die protestierende Menschenmenge auf dem Platz im Herzen von Kiew gefeuert. Die Erinnerung daran ist noch hellwach. Tausende Blumensträusse liegen im Dreck der staubigen Zufahrtstrassen. Plakate und Transparente mahnen zum Durchhalten. Anspannung und Unsicherheit sind nicht gewichen.
So ist sie, die ukrainische Revolution. Konsequenz, Kreativität und Pathos mischen sich. Auch drei Wochen nach dem gewaltsam erzwungenen Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch harren auf dem Maidan Hunderte kampfbereite Menschen aus. Sie wollen bleiben, «bis die Demokratie in unserem Land endgültig gesiegt hat». So erklärt es der 23-jährige Juri, der aus einem kleinen Ort bei Lemberg in der Westukraine stammt. Er trägt Tarnkleidung und steht inmitten der Barrikaden. Der Helm und die kugelsichere Weste haben ihre Schuldigkeit vorerst getan, er hält sie aber trotzdem griffbereit.
Putin ist nach der Flucht des verhassten Janukowitsch der Hauptfeind der Maidan-Revolutionäre.
Wann die Demokratie in der Ukraine gesiegt haben wird, kann der hagere junge Mann nicht vorhersehen. «Putin ist alles zuzutrauen», sagt er. Russlands Präsident Waldimir Putin ist nach der Flucht des verhassten Janukowitsch zum Hauptfeind der Maidan-Revolutionäre geworden. Der Kremlchef hat kurz nach dem Kiewer Februar-Umsturz paramilitärische Truppen auf die Krim geschickt und dort einer Marionettenregierung zur Macht verholfen. An Sonntag, dem 16. März sollen die knapp 2,4 Millionen Bewohner der Schwarzmeer-Halbinsel über die Abspaltung der Autonomen Republik von der Ukraine abstimmen und damit eine Eingliederung in die Russische Föderation ermöglichen.
Kreml-Intimfeind: Michail Chodorkowski im Gespräch mit Besetzern des Maidans. (Bild: Reuters/Stringer)
Der Westen will keinen Krieg um die Krim
Beobachter gehen davon aus, dass die Bürger der Krim mit grosser Mehrheit für den Anschluss an Russland stimmen werden – und sei es unter Zwang. Das moskautreue Scheinparlament hat bereits die Unabhängigkeit der Region erklärt und damit Fakten geschaffen. Die westliche Staatengemeinschaft spricht von einer Annexion, einem völkerrechtswidrigen Gewaltakt. Juri sieht es genauso. «Putin raubt uns die Krim, und danach lässt er seine Panzer in den Osten der Ukraine einrollen», prophezeit der junge Mann. Das ist die grosse Angst, die nicht nur auf dem Maidan in Kiew umgeht, sondern auch in Berlin, Brüssel und Washington.
Die meisten verantwortlichen Politiker in der EU und den USA haben die Krim, auf der die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist und wo fast zwei Drittel der Bevölkerung Russen sind, bereits abgeschrieben. Offen sagen mag das in westlichen Diplomatenkreisen niemand. Hinter vorgehaltener Hand heisst es aber unmissverständlich: «Die Krim ist weg. Wir werden deswegen keinen Krieg führen.» Aber was ist mit den ostukrainischen Industrie- und Wirtschaftszentren Charkiw, Donezk und Dnipropetrowsk?
Neue Nationalgarde für die Ukraine
In Donezk kam es am Donnerstagabend zu schweren Zusammenstössen zwischen prorussischen und regierungstreuen Kräften. Ein Demonstrant starb unter noch ungeklärten Umständen. Am Freitag warnte das Aussenministerium in Moskau, die Behörden in Kiew hätten «die Lage nicht mehr unter Kontrolle». Ein Vorwand für eine Intervention?
Und wie steht es um Odessa? Für die russischen Kriegsschiffe im Schwarzen Meer wäre es ein Leichtes, die südukrainische Hafenstadt von See her einzunehmen. Und russische Panzer «könnten in wenigen Stunden in Kiew sein», erklärt der Chef des Nationalen Sicherheitsrates der ukrainischen Übergangsregierung, Andri Parubi.
Auf dem Maidan sind die verbliebenen Revolutionäre bereit, für die Freiheit ihres Landes zu sterben. So zumindest lauten die Losungen der Banner, die über den Barrikaden wehen. «Meine Freunde sind unterwegs in den Osten», erklärt Juri. Die militärisch machtlosen neuen Machthaber in Kiew haben angesichts der Schwäche der ukrainischen Armee eine Nationalgarde gegründet, die ihre bis zu 60’000 Kämpfer vor allem aus den sogenannten Selbstverteidigern des Maidan rekrutiert, der Samoobrona, deren Befehlshaber Parubi war.
Mitglieder der Selbstverteidigungsorganisation Maidan: Sie werden für die Nationalgarde rekrutiert. (Bild: Reuters/Thomas Peter)
In der Tradition der Kosaken
«Wir können nicht zulassen, dass Russland die Ukraine noch einmal unterwirft», sagt Juri mit Blick auf die schwierige Geschichte der Nachbarstaaten. Grossrussische Nationalisten sehen in den «slawischen Bruderländern» gern eine Einheit, deren Zentrum seit der mittelalterlichen Kiewer Rus längst auf Moskau übergegangen ist. Auf dem Maidan projizieren an diesen milden Märzabenden Scheinwerfer Schriftzüge auf eine Hauswand. Sie markieren die «Kiewska Sitsch». Als Sitsch bezeichnen die Ukrainer einen freien Kosakenstaat, wie es ihn im Spätmittelalter gab, bis sich der Hetman (kosakischer Truppenkommandant) Bohdan Chmelnizki 1654 dem russischen Zaren unterwarf.
In der Tradition der Kosaken kämpften während der Revolutionstage auf dem Maidan die Selbstverteidiger der Samoobrona. Ihr Chef Parubi war es, der gemeinsam mit dem Anführer des ultranationalistischen Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, jenes Abkommen torpedierte, das die gemässigte Opposition mit Janukowitsch geschlossen hatte. EU-Aussenminister hatten den «Deal» vermittelt, auf den sich wohl auch Putin eingelassen hätte. Die Samoobrona und der Rechte Sektor jedoch erzwangen den sofortigen Machtwechsel. Nach Jarosch fahnden russische Strafverfolger inzwischen wegen Aufrufs zum Terrorismus.
«Bande faschistischer Verbrecher»
Es ist dieser Flügel der ukrainischen Revolution, der es dem Kreml leicht macht, die neue Führung in Kiew propagandistisch als «Bande faschistischer Verbrecher» zu geisseln. Vor deren angeblicher Brutalität will die Führung in Moskau russischstämmige Bürger in der Ukraine schützen. Das ist die Argumentation, mit der Putin die Annexion der Krim vorbereitet und sich ein militärisches Eingreifen im Osten des Nachbarlandes offen hält.
An der Grenze zur Ukraine hat die russische Armee derzeit mehrere Tausend Soldaten und schweres Gerät stationiert. Die Angaben über das Ausmass der Truppenbewegungen gehen weit auseinander. Die russische Agentur Interfax berichtete von 4000 Soldaten. Parubi spricht von 80’000 bewaffneten Kämpfern in Grenznähe sowie von 270 Panzern, 380 Artilleriegeschützen und 18 Raketenwerfern. US-Aussenminister John Kerry nannte die Zahl von 20’000 russischen Soldaten allein auf der Krim.
EU plant Einreiseverbote für russische Regime-Mitglieder
In dieser Situation wollen Washington und Brüssel die Lage in keinem Fall militärisch eskalieren lassen. Stattdessen setzen die USA und die EU auf Sanktionen und versuchen, Moskau zu isolieren. Am Montag nach dem Referendum will die EU Einreiseverbote für hochrangige Vertreter des Putin-Regimes beschliessen und deren millionenschwere Auslandskonten sperren lassen. Im Laufe der Woche soll der politische Teil jenes Assoziierungsabkommens mit der Ukraine unterzeichnet werden, an dem sich im Herbst die Revolution in Kiew entzündet hatte. Janukowitsch hatte den lange geplanten Vertragsschluss kurzfristig platzen lassen.
Auf dem Maidan wird man die Unterschrift vermutlich feiern. «Das ist das, was wir wollen», sagt Juri und zeigt auf die berühmt-berüchtigte «Maidan-Tanne». Die Revolutionäre haben das Holzgerüst, das ursprünglich als Weihnachtsbaum dienen sollte, zu Beginn ihres Aufstandes gekapert. Sie behängten es unter anderem mit Flaggen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Das blau-gelbe ukrainische Banner ist selbstverständlich mit dabei.