Der siebte Gewinn der afrikanischen Champions League war für den Al Ahly Football Club weit mehr als ein Triumph auf dem Fussballplatz. Die Mannschaft erlebte 2012 eine Revolution, eine Stadiontragödie und einen Putsch. Eine fast schon unglaubliche Geschichte mitten im arabischen Frühling.
72. 74. 22. Das sind die Zahlen, nach denen der Al Ahly Fussball Club lebt und stirbt. Fussball ist ein Spiel der Zahlen, gefüllt mit Fakten und mit Anekdoten vergangener Jahre, die miteinander verglichen werden, an die man sich erinnert und über die man streitet. Zuschauerzahlen, Assists, manchmal sogar Tore. Aber nicht in Ägypten.
In Ägypten wurde dem Fussball für lange Zeit fast der gesamte statistische Treibstoff entzogen – und all den trivialen Streitigkeiten und Diskussionen ebenso. Da gab es keine Ligaspiele zu besprechen. Keine Tore zwischen Lokalrivalen zu analysieren. Keine Zuschauerzahlen, die mit dem letzten Jahr verglichen werden könnten. Da gab es nur drei Zahlen, die über allem anderen schwebten: 72. 74. 22.
72. Es ist die Zahl der Fans von Al Ahly, die am 1. Februar 2012 während eines Fussballspiels in Port Said getötet wurden. Al Ahly, Afrikas bestes Clubteam der Geschichte, reiste von Kairo nach Port Saïd, um einen Routinesieg einzufahren. Etwas mehr als ein Jahr war vergangen seit der Januarrevolution, und Ägpyten war noch immer ein hoffnungsvoller, wenn auch chaotischer Ort.
Gemeinsam bereiteten die beiden das Auswärtsspiel gegen Stade Malien vor. Doch kaum war das Team gelandet, begann in Malis Hauptstadt Bamako ein Putsch. Die Spieler waren nach einer 0:1-Niederlage für eine Woche im Hotel eingesperrt, während rundum Strassenkämpfe im Gang waren.
«Ich erinnere mich, wie wir auf unseren Rückflug gewartet haben», sagt el Badry später mit einem Kopfschütteln, «Minute für Minute, Stunden um Stunde, Tag für Tag. Wir hatten wirklich während fast eineinhalb Jahren eine ganz schwierige Zeit bei Al Ahly. Aber wir haben versucht, die Probleme in Motivation umzuwandeln.»
Im Rückspiel sieht alles danach aus, als ob die Champions League für Al Ahly beendet wäre. Schnell gerät das Team 0:1 in Rückstand. Wieder wird im leeren Militärstadion gespielt. Und Al Ahly bräuchte drei Tore, um sich doch noch zu qualifizieren.
Mohamed Aboutreika kommt erst nach der Pause. Das ist sein Spiel. Sein erstes Tor nach 54 Minuten ist ein wundervoller Freistoss. Das zweite, in der 82. Minute, ein Elfmeter. Und das dritte, sechs Minuten später, ist ein Volley zum Einzug in die Gruppenphase. Aboutreika rennt im Zick-Zack über das Feld, er weiss gar nicht, wo er hin soll, ehe er von den Mitspielern eingeholt und umgerissen wird.
Für Cheftrainer Manuel José ist dieses Spiel das letzte. Er tritt zurück. Sein Nachfolger wird el Badry. Vor allem auch deswegen, weil sich niemand anderes für diesen Job interessiert, so lange die ägyptische Meisterschaft weiterhin ruht.
In der Gruppenphase trifft Al Ahly auf TP Mazembe aus der Demokratischen Republik Kongo, Berekum Chelsea aus Ghana und auf die Stadtrivalen von Zamalek. Al Ahly verliert bloss ein Spiel gegen Mazembe in Lubumbashi.
Alexandria, September 2012
Sieben Monate sind seit der Tragödie von Port Said vergangen und noch immer ruht in Ägypten der Fussball. Wie die Ahlawy versprochen haben, boykottieren sie die Liga so lange, bis ein Urteil gesprochen wird. 73 Menschen sind verhaftet worden und warten auf die Verhandlung vor Gericht. Es sind vor allem Fans von Al Masry, aber auch ein paar wichtige Sicherheitsverantwortliche.
In ein paar Fällen sind die Ahlawy in Stadien eingebrochen, in denen später hätte gespielt werden sollen. Der ägyptische Verband, durch seine Nähe zum Mubarak-Regime sowieso schlecht angesehen, ist regelmässig vor dem Widerstand der Ahlawy eingeknickt. Und so wird mit den Prozessen jeweils auch der Start der Liga nach hinten verschoben.
Captain, Fussballheld, Integrationsfigur: Mohamed Aboutreika trug die Nummer 22 auf dem Rücken. (Bild: AP Photo/Osama Abdel Naby)
Aber im September organisiert der Verband als Saison-Eröffnungsspiel den Super-Cup zwischen Meister und Cupsieger. Er soll im riesigen Borg al Arab Stadion ausserhalb von Alexandria stattfinden.
Die Ahlawy schwören, sie würden das Stadion stürmen, sollte das Spiel angepfiffen werden. Mohamed Aboutreika weigert sich zu spielen. «Ich werde nicht am Spiel teilnehmen, weil ich fürchte, dass es zu einem weiteren Massaker kommen könnte», erklärt er in einem Statement.
Al Ahly sperrt Aboutreika wegen seiner Weigerung zu spielen für zwei Monate. Er wird den Halbfinal gegen die Sunshine Stars aus Nigeria verpassen.
Kairo, November 2012.
In eineinhalb Stunden soll Al Ahly das Rückspiel im Halbfinal der afrikanischen Champions League gegen die Sunshine Stars bestreiten. Das Hinspiel in Ijebu-Ode im Südwesten Nigerias hat 3:3 geendet.
Auch diese Partie in Kairo wird vor leeren Rängen stattfinden. Aber die die Spieler von Sunshine Stars sind nirgends zu sehen, sie stecken in ihrem Hotel fest. Der Platz davor ist überschwemmt von ägyptischen Demonstranten.
Es sind nicht die üblichen Protestierenden, die sonst auf dem Tahria-Platz zu sehen sind. Und es sind auch keine Ahlawy. Nein, es sind Fussballprofis, verärgert darüber, dass ihnen die Lebensgrundlage entzogen worden ist.
Sie sind wütend, dass Al Ahly immer noch in der Champions League spielen darf, während sie keine Begegnungen bestreiten können. Sie hoffen, dass ihr Anliegen endlich wahrgenommen wird, wenn sie die nigerianischen Spieler in deren Hotel blockieren und Al Ahly deswegen aus der Champions League geworfen wird.
«Auf dem Weg zum Stadion haben uns rund 2000 Fans applaudiert. Aber die Spieler im Bus haben das nicht begriffen. Sie meinten, die Fans seien wütend.»
Stattdessen treten die Ahlawy auf den Plan. «Wir hatten während der Rush Hour mitbekommen, dass die Fussballprofis einen Marsch organisierten», erinnert sich Mohamed, ein Gründungsmitglied der Ahlawy, «also haben wir uns aufgemacht, um die Sunshine-Spieler zu befreien. Wir haben uns via Internet und SMS organisiert. Es gab Kämpfe mit den Fussballprofis vor dem Stadion. Aber wir haben den Weg für den Bus freibekommen.»
Die Ahlawy führen die nigerianischen Spieler schliesslich zum Bus und arrangieren eine Eskorte zum Stadion. Colin Udoh, ein nigerianischer Journalist, der mit Sunshine reist, erzählt: «Auf dem Weg zum Stadion haben uns rund 2000 Fans applaudiert. Aber die Spieler im Bus haben das nicht begriffen. Sie meinten, die Fans seien wütend. Es ist sehr speziell, Fans mit einer solchen Macht zu sehen.»
Das letzte Hindernis auf dem Weg zum Final ist überwunden. Al Ahly schlägt die Sunshine Stars 1:0.
Port Said, Februar 2013
Irgend jemand wässert und mäht noch immer das Gras des Port Said Stadions. Es ist fast genau ein Jahr her, seit die 72 Fans von Al Ahly hier getötet wurden. Es ist Mittag und ich sehe das frische, grüne Gras durch die verschlossenen Tore. Die Linien sind gezogen und die Sprinkler gehen.
Kein Spiel wurde hier seit einem Jahr bestritten. Aber jemand liebt dieses Stadion noch, jemand liebt noch dieses Gras. Das grüne Feld fühlt sich an wie der einzige Farbfleck der gesamten Stadt.
Das Stadion in Port Said wurde für die U20-Weltmeisterschaft 2009 renoviert. Aber es ähnelt allen anderen zerfallenden Stadion-Reliquien der 1950er-Jahre im Nahen Osten.
Und die Stadt selbst liegt im Sterben. Sie liegt an der Mündung des Suez Kanals, aber sie ist isoliert und längst heruntergekommen. Die Arbeitslosigkeit war schon vor der Revolution und dem folgenden ökonomischen Kollaps hoch.
In Port Said glauben viele an eine Verschwörung: dass Al Masry geopfert wurde, um Kairo vor dem Absturz ins Chaos zu bewahren.
In der Nähe des Stadions schmücken ausgebrannte Autos und Barrikaden die Strasse. Nachdem im Januar 2013 das erste Urteil des Port-Said-Prozesses 21 Masry-Fans zum Tod verurteilt hatte, gab es bei Demonstrationen 30 Tote. Das Gefängnis war gestürmt worden, zwei Polizisten kamen ums Leben. Die Polizei schoss zurück.
Seither hat Port Said jede Nacht gebrannt und mehr Tote folgten. Ein Kreislauf von Beerdigungen, Protesten und Tote, Beerdigungen, Protesten und Tote. Die Bewohner von Port Said, mit denen ich rede, gehen von einer Verschwörung aus. Davon, dass Al Masry geopfert wurde, um Kairo vor dem Absturz ins Chaos zu bewahren.
Es ist später Morgen und die Tore des Port Said Stadions sind geschlossen. Ich umrunde seine grauen Mauern, um einen Weg hinein zu finden. Jede Tür ist mit brandneuen Schlössern verschlossen. Aber ein Tor wurde offen gelassen, ich drücke es auf.
Es ist gleich neben jenem Tor, bei dem die Tragödie geschah. Die Treppe, auf der die meisten Ahlawy ums Leben kamen, sieht entsetzlich schmal aus. Die Türen, die schliesslich aus ihren Angeln gerissen wurden, liegen noch immer genau so da wie vor zwölf Monaten. Es sieht aus, als ob es erst gestern passiert sei.
Ich mache ein paar Bilder. Aber dann werde ich von einem Sicherheitsmann aus dem Stadion gejagt, der mir nachruft, ich sei ein israelischer Spion.
Da ist sie wieder, die 72. Sie wollten die Toten von Port Said mit dem Gewinn der Champions League ehren. Und sie haben es geschafft. Spieler von Al Ahly feiern den Titelgewinn. (Bild: Zoubeir Souissi / Reuters)
An diesem Wochenende kehrt der Fussball für kurze Zeit wieder zurück nach Ägypten. Die Ahlawy haben zuvor während sechs Monaten insgesamt dreimal erfolgreich verhindert, dass die Liga wieder beginnt. So lange, bis sie glaubten, dass die 74 Toten gesühnt waren.
Ein paar Monate später gibt es noch mehr Verurteilungen, den Polizeichef von Port Said und einen Brigadegeneral eingeschlossen. Der Bericht des Staatsanwalts behauptete, es habe vor dem Spiel eine Art konspiratives Treffen gegeben zwischen der Polizei und einigen der 21 zum Tode verurteilten Al-Masry-Anhänger. Aber viele Fragen bleiben offen, was diese Nacht von Port Said betrifft.
Schliesslich wird der frisch gewählte Präsident Mohammed Mursi gestürzt, die Liga pausiert erneut. Erst seit Dezember 2013 wird wieder regelmässig gespielt. Mohamed Aboutrika kehrt noch einmal zurück, um mit Al Ahly die Champions League 2013 zu gewinnen. Dann tritt er endgültig ab.
Aber das ist zu diesem Zeitpunkt alles Zukunftsmusik. Im Moment renne ich aus dem Stadion von Port Said, die Angst im Nacken, als israelischer Spion gelyncht zu werden. Zurück, zu den ausgebrannten Autos, wo sich jetzt Hunderte von Menschen vor einer Moschee versammeln. Wie in den Tagen zuvor findet ein Bregräbnis eines jungen Mannes statt, der bei Zusammenstössen mit der Polizei getötet wurde. Sein Leichnam ist in ein Leinentuch gewickelt, er wird durch die Menge zurück zu den Barrikanden getragen.
Der Artikel ist auf Englisch im Magazin «The Blizzard», Ausgabe 11, unter dem Titel «In Memoriam» erschienen. Übersetzung: Florian Raz.
Quellen
James Montague, «When Friday Comes: Football in the War Zone», ISBN 1845963695 (ISBN13: 9781845963699).
Artikelgeschichte
Der Artikel ist auf Englisch im Magazin «The Blizzard», Ausgabe 11, unter dem Titel «In Memoriam» erschienen. Übersetzung: Florian Raz.