Verurteilte Pädophile sollen lebenslang vom Umgang mit Kindern ausgeschlossen bleiben. Das fordert eine Volksinitiative, über die am 18. Mai abgestimmt wird. Psychiater Piet Westdjik hatte schon Opfer wie auch Täter in Behandlung. Für ihn ist eine lebenslange Verurteilung keine sinnvolle Lösung.
Sex mit Kindern ist ein rotes Tuch. Die Pädophilen-Initiative, die am 18. Mai 2014 vors Volk kommt, lässt entsprechend die Emotionen hochgehen. Künftig soll in der Bundesverfassung stehen: «Personen, die verurteilt werden, weil sie die sexuelle Unversehrtheit eines Kindes oder einer abhängigen Person beeinträchtigt haben, verlieren endgültig das Recht, eine berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit mit Minderjährigen oder Abhängigen auszuüben.»
Manche Politiker meinen, dass die Initiative das Prinzip des Rechtsstaates, konkret den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, angreife. Der indirekte Gegenvorschlag des Parlamentes und des Bundesrats fordert deshalb ein Rayon- und Kontaktverbot sowie ein zehnjähriges Berufsverbot, das bei Bedarf lebenslang gültig bleiben kann.
Viele kämpfen gegen ihre Neigung
Wenn Emotionen hochgehen, ist es gut, eine Denkpause einzulegen und sich zu informieren. Worum geht es? Die Online-Enzyklopädie Wikipedia liefert eine ausführliche Beschreibung der Pädophilie aus historischer, ärztlich-psychiatrischer, medialer und strafrechtlicher Sicht, die man nachlesen kann, sogar sollte. Für die Mehrheit von uns bleibt das sexuelle Interesse an Kindern jedoch etwas Fremdes, das nicht nachvollziehbar ist und wütend macht.
Der Begriff Pädophilie ist nicht ganz klar und deshalb verwirrend. Als Psychiater und Therapeut habe ich gelernt, dass «das primäre sexuelle Interesse an Kindern, die noch nicht die Pubertät erreicht haben», nicht mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern gleichzusetzen ist. Studien zeigen, dass nur 12 bis 20 Prozent der Fälle von sexuellem Kindsmissbrauch pädophil motiviert sind.
Die grosse Mehrheit derartiger Taten wird also von Personen begangen, deren Sexualität überwiegend auf Erwachsene ausgerichtet ist. Nicht jeder, der pädophil veranlagt ist, wird zum Täter: Viele Betroffene ringen mit ihrer krankhaften Neigung und schaffen es, diese zu unterdrücken.
Wenn Mütter nicht ernst genommen werden
Als Therapeut habe ich mit Tätern wie auch mit Opfern zu tun. Lea (Name geändert) war rückblickend die erste Patientin, die wahrscheinlich von ihrem Vater missbraucht worden war. Ich lernte sie erst kennen, als sie selber schon ein pubertierendes Kind hatte.
Wir duzten uns, weil wir meistens – mithilfe einer von ihr gebastelten Puppenstube – in ihrer Kindheit weilten, wo ich als Therapeut die Rolle eines Ersatzvaters einnahm. Sie war zuvor schon mehrfach psychiatrisch hospitalisiert worden, was ihr aber nichts genutzt hatte. Ihre Seele sei «vom Vater getötet worden», sagte sie. Sie wollte nur noch sterben.
Aufgrund meiner Begegnung mit Lea las ich – als unerfahrener Arzt auf diesem Gebiet – das Buch «Ich weinte nicht, als Vater starb», in dem die in Basel geborene Traumatherapeutin Iris Galey erzählt, wie sie von ihrem Vater missbraucht wurde. Später betreute ich weitere Opfer, die von ihren Vätern missbraucht worden waren. Viele dieser Täter waren bereits gestorben, was ich bedauere, hätte ich doch gerne geholfen, sie vor Gericht zu bringen.
Sensibilisiert für diese Problematik kam ich in Kontakt mit einer Selbsthilfegruppe, die immer noch existiert und sich «Warum glaubt mir niemand?» nennt. Diese Gruppe wurde 1998 durch Mütter von Kindern gebildet, die vom Vater sexuell ausgebeutet wurden. Diese Mütter fühlen sich von Kinderpsychiatern und Behörden nicht ernst genommen.
Als einer von sehr wenigen Kinderpsychiatern und -psychologinnen, die diese Gruppe ernst nehmen, schreibe ich immer wieder Zeugnisse zuhanden der kantonalen Kinder- und Jugenddienste, in denen ich aufgrund der Aussagen und des Verhaltens eines Kindes vom Kontakt mit dem Vater dringend abrate.
Ein Pädophiler, der keiner war
Täter werden meistens in die Forensik der UPK, der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, eingewiesen. Zu mir kommen sie nur selten im Rahmen einer Massnahme, die ihr Strafurteil vorschreibt. Das heisst, dass die Gutachter eine Therapie für richtig erachten. Nur für eine ambulante Behandlung vorgesehene Delinquenten können sich bei mir melden.
An einen Klienten erinnere ich mich noch gut. Er war adoleszent, und sein Opfer in der frühen Pubertät. Es handelte sich um einen Ephebophilen, die sich insofern von Pädophilen unterscheiden, als sich ihr sexuelles Interesse auf Burschen in der Pubertät richtet. Am Ende der Therapie berichtete der Klient von einer heterosexuellen Beziehung mit einer gleichaltrigen Frau, in der er sich sehr glücklich fühlte. Ein «Pädophiler», der keiner war und doch als solcher verurteilt worden war.
Er versuchte, sich in einem Hotel das Leben zu nehmen.
Ein anderer Klient, an den ich mich erinnere, kam aus einem anderen Kanton. Er wollte sicher sein, dass niemand aus seinem Umfeld ihn sah, wie er einen Psychiater aufsuchte. Auf ihn traf die Diagnose Pädophilie eher zu. Er hatte von Websites pornografische Bilder mit Kindern und Jugendlichen heruntergeladen. Sein Beruf hatte nichts mit Kindern und Jugendlichen zu tun. Doch hatte er Möglichkeiten, sich mit Kindern und Jugendlichen zu treffen.
Nachdem die Polizei unerwartet bei ihm zu Hause erschienen war und seinen Computer beschlagnahmt hatte, war für ihn eine Welt zusammengebrochen. Er verliess sein Haus, irrte herum und versuchte, sich in einem Hotel das Leben zu nehmen. Nachdem ihm dies misslungen war, blieb ihm nur noch die Möglichkeit einer Therapie.
Dankbar, erwischt worden zu sein
Am Anfang einer solchen Therapie geht es darum, die aktuelle Situation (Familie, Beruf, Freizeit) zu eruieren, das heisst: Ich versuche mich zu versichern, dass keine neuen Entgleisungen drohen. Zweitens muss ich den Klienten kennenlernen, was heisst – alles über seine Herkunft, Kindheit, Schullaufbahn, berufliche Karriere, Hobbys und Beziehungen zu erfahren.
Zudem muss «die Chemie» zwischen dem Klienten und mir stimmen. Dabei hilft mir der «Ich und Du»-Ansatz des Religionsphilosophen Martin Buber, der zwischen «Ich-Du» und «Ich-Es» unterscheidet, wobei nur «Ich-Du» zu einem nicht ausbeutenden Dialog führt, während «Ich-Es» den schlichten Gebrauch (bis Missbrauch) des Gegenübers im Fokus hat.
Dieser Unterschied wurde für den Klienten ganz wichtig. Er sah, wie er die Kinder in einem «Ich-Es»-Sinn missbraucht hat, was ihn immer wieder bei Konfrontationen meinerseits zutiefst erschütterte. Er entwickelte darauf allmählich Alternativ-Verhaltensmuster, die «Ich-Du»-Möglichkeiten einschlossen.
Die Therapie zog sich über mehrere Jahre hin und war schliesslich erfolgreich. Beim Abschlussgespräch zeigte er sich dankbar, dass die Polizei ihn erwischt hatte. Durch die Therapie hatte er für sein Verhalten Verantwortung übernehmen und sich ändern können.
Der Hang zum Schubladisieren
Eine Schwierigkeit, die ich bei der Pädophilen-Initiative sehe, ist ihre Affirmation einer eher unschönen menschlichen Eigenschaft: Mir fällt immer wieder auf, wie gerne wir Leute schubladisieren und dabei aufpassen, dass wir selbst nicht zur Kategorie der üblen Menschen gehören. «Männer sind Schweine», heisst es zum Beispiel in einem Lied der Band Die Ärzte. Sie nutzen jede Gelegenheit, wie Zahlen der Pornoindustrie zeigen, die nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland, Russland und China blüht.
Ob «normal» heterosexuell oder pädophil – viele Männer können ihren Pornokonsum kaum oder nur mühsam zügeln. Die lebenslange Verurteilung von Männern allein ist deshalb sicher keine Lösung, stattdessen brauchen wir Möglichkeiten zur Therapie.
Auf die Pädophilen-Initiative bezogen heisst das, dass die indirekte Alternative des Bundesrates und des Parlamentes wohl nicht das Dümmste wäre. Auch damit liesse sich bei Bedarf das Strafmass lebenslang aussprechen. Doch bliebe so auch die Möglichkeit offen, durch therapeutische Massnahmen eine Besserung zu erzielen. Im Interesse des Täters – aber auch und gerade zum Schutz potenzieller Opfer.