Geburtstag auf dem Affenfelsen

Eigentlich gäbe es Grund zum Feiern: Seit 300 Jahren gehört Gibraltar zu Grossbritannien. Doch just zum Jubiläum zanken sich Spanier und Briten wieder einmal um den Felsen am Eingang zum Mittelmeer.

Stein des Anstosses: Just zum Jubiläum streiten sich Spanien und Grossbritannien wieder einmal um Gibraltar. (Bild: Reuters/Jon Nazca)

Eigentlich gäbe es Grund zum Feiern: Seit 300 Jahren gehört Gibraltar zu Grossbritannien. Doch just zum Jubiläum zanken sich Spanier und Briten wieder einmal um den Felsen am Eingang zum Mittelmeer.

Pünktlich zum Jubiläum rückt sich Gibraltar ins öffentliche Interesse und macht auf einen schwelenden Konflikt aufmerksam, der mitten in der EU der Lösung harrt. Die Aktion «Betonklötze» hat einen Streit ausgelöst, der absurder kaum sein könnte. Wohl ohne ihre Schirmherren in Grossbritannien zu konsultieren, haben die Gibraltarer an ihrer kleinen Küste mit Haken versehene Betonklötze versenkt, um die Schleppnetze der spanischen Fischer von den selbst beanspruchten Gewässern abzuhalten.

Mit diesen Betonklötzen haben sich die Gibraltarer selbst ein direktes oder indirektes Jubiläumsgeschenk gemacht. Und zwar in mehrfacher Hinsicht: einmal mit der Verteidigung ihrer Fischgründe, sodann mit dem auf Grossbritannien ausgeübten Druck, Farbe zu bekennen, und schliesslich, was das Wichtigste ist, mit der Möglichkeit, Spanien gegenüber wieder einmal die eigene Identität zu bekräftigen.

«Neither British, nor Andalusian» 

Doch worin besteht denn diese Identität? Schlendert man durch Gibraltar, was schnell gemacht ist, und hält auf der Avenida Winston Churchill nach den Gibraltarern Ausschau, sind sie kaum auszumachen. Aber es gibt sie, neben den vielen Spaniern, Briten, Marokkanern und den Touristen aus aller Welt. Doch die Gibraltarer bilden ein eigenes Volk. Das jedenfalls haben Gibraltars Regierungschefs wiederholt erklärt, nicht nur, weil Volksführer ein Volk brauchen, sondern weil vom Volksstatus heutzutage ein Selbstbestimmungsrecht abgeleitet werden kann. Selbstbestimmung in diesem Fall gegen Spanien und an der Seite Grossbritanniens – «Schulter an Schulter».

Von einem Volksstatus war jedoch noch keine Rede, als der Fels an der Meeresenge zwischen Mittelmeer und Atlantik nach einem dynastischen Erbfolgekrieg 1713 im Frieden von Utrecht an Grossbritannien überging. Nein, der Volksstatus ist jüngeren Datums: Er entwickelte sich erst seit den 1960er-Jahren, als Spanien mit der Unterbrechung zunächst des Autoverkehrs, dann des Personenverkehrs und schliesslich des Telefonverkehrs die Kleingemeinde am Zipfel des europäischen Festlandsockels massiv unter Druck setzte.

Am Ende dieser Phase konnte Gibraltars damaliges Oberhaupt, Minister Joseph Garcia, 1982 feststellen, dass es ein Volk von Gibraltar gebe, das eine eigene Identität habe: «… we are neither British, nor Andalusian … a combination of Mediterranean and Anglo-Saxon cultures.»

So weit eine Kanone schiesst

Von spanischer Seite wird dem Selbstbestimmungsanspruch entgegengehalten, dass die Gibraltarer nicht zur Urbevölkerung gehören würden und alle nur eingewandert seien – «artificially imported». Dem wird wiederum entgegengehalten, dass die Spanier auf dem als iberisch bezeichneten Subkontinent selber nur Okkupanten seien, welche die einheimischen Mauren vertrieben hätten. Ebenfalls absurd ist es, wenn Spanien, selbst Kolonialmacht in Nordafrika (Mellila, Ceuta, Petersilieninsel), den Briten Kolonialismus vorwirft und damit droht, die Argentinier in der Falklandfrage zu unterstützen.

Eine ethnische Einheit sind die Gibraltarer nicht und sie beanspruchen auch nicht, eine zu sein. Das Volkscharakteristikum der Gibraltarer ist der «Mix». Eine Mischung aus Genuesern, Maltesern, Sarden, Sizilianern, Minorcanern, Savoyern, Franzosen, Österreichern, Portugiesen, Spaniern und Briten – «men from the United Kingdom», die meisten Christen oder Juden, neuerdings wieder auch einige Muslime. Seit wann eine Affenkolonie den Felsen bewohnt, muss offen bleiben. Vermutet wird, dass bereits die Mauren oder sogar die Römer diese Tiere auf den Fels gebracht haben. Von den zu Maskottchen aufgewerteten Tieren heisst es, dass sie (wie die Gänse auf dem römischen Kapitol) die britische Garnison gewarnt hätten, als die Spanier ihren «Peñón» im 18. Jahrhundert mit einem Nachtangriff zurückholen wollten.

Spanien sucht sein Recht in der UNO

Das Volk der Gibraltarer wurde schon zweimal (1967 und 2002) über seine Zugehörigkeitswünsche befragt – zweimal kamen, wie von den Lokaloberen gewünscht, ganz entschiedene Bekenntnisse von gegen 99 Prozent zur Britishness beziehungsweise den Privilegien zustande, die man dank dieser Treue geniessen kann.

Der britische Anspruch auf die strategisch interessante Position bezieht sich nicht primär auf die Bevölkerung, sondern auf das vor 300 Jahren «für immer, ohne Ausnahme oder Einschränkung» zugesprochen erhaltene Territorium von knapp sieben Quadratkilometern, das sich auf die Stadt, die Festung und den Hafen beschränkt und die aktuell strittige Frage der «territorialen Gewässer» offen liess: Soll, darf, muss auch bei Gibraltar eine das sogenannte «Küstenmeer» abgrenzende Drei-Meilen-Linie gelten, die – im 17. Jahrhundert – nach der Distanz eines Kanonenschusses bemessen wurde?

Der Anspruch, vor allem auf Grund eines gemeinsamen Willens ein Volk zu sein, ist durchaus modern. Im Falle Gibraltars wirft er freilich die Frage auf, wie gross die Gruppe sein muss, damit sie als Volk gelten kann. Geht das mit rund 28 000 Menschen, wovon allerdings nicht alle «Staatsbürger» sind? Das sind weniger als ein Sechstel des Basler Stadtkantons. Zur Staatsbürgerschaft: Sie ist britisch, somit gemäss Maastricht gestützt auf die Unionsbürgerschaft ebenfalls europäisch – wie auch im Falle der Spanier und Spanierinnen.

Die Betonklötze vor der Küste haben Spanien provoziert, mit antikolonialistischen Parolen den Anspruch auf den Felsen zu bekräftigen. Das Land sucht jetzt sein Recht in der UNO, weil es dort eine antikolonialistische Mehrheit gibt. Grossbritannien hat die Versenkungsaktion zu einem Solidaritätsbekenntnis gedrängt und bewirkt, dass die Regierung Cameron Hilfe in Brüssel sucht, zu dem sie eigentlich auf grössere Distanz gehen möchte.

Die Furcht vor den Falken

Ist der aktuelle Streit bloss ein Sommertheater? Sicher wäre auch in diesem Fall zu unterscheiden, was vor und was hinter der Bühne abläuft. Von den vor den Kulissen gespielten Szenen kann man sagen, dass sowohl die spanische als auch die britische Regierung in derart schwierigen Verhältnissen stecken, dass ihnen die Ablenkung sehr willkommen sein dürfte. Die Regierung Cameron muss sich zudem nationalistischer geben, als sie vielleicht sein möchte, sitzen ihr doch die Falken der eigenen Partei und die Rivalen der United Kingdom Independence Party (Ukip) im Nacken.

Zu den innerparteilichen Rivalen gehört Londons Bürgermeister Boris Johnson, der aus dieser Sache Kapital schlug, indem er sich als Herold der kompromisslosen Verteidigungsbereitschaft aufschwang, zugleich wieder einmal seine Abneigung gegen den Euro bekundete und Spanien riet, zur Peseta zurückzukehren.

Gäbe es noch andere Lösungen dieses Konflikts? Warum können die Briten den Fels nicht einfach abtreten und den Stein des Anstosses aus der Welt schaffen, indem sie wie 1997 im Falle der Kronkolonie Hongkongs auf diesen Teil des Empires verzichteten? Man könnte, sofern man wollte. Trotz des vermeintlichen Selbstbestimmungsrechts der Gibraltarer. Wenn der Wille des «Volkes» von Hongkong (über 7 Millionen) irrelevant war, dann dürfte dies auch der Wille des «Volkes» von Gibraltar sein. Andererseits erstaunt es nicht, dass die Erwartungen Chinas mehr zählen als diejenigen Spaniens.

EU zeigt sich schwach

Vorübergehend war von einer gemeinsamen britisch-spanischen Verwaltung die Rede – von einem Kondominium. Davon ist man zurzeit weit entfernt. Kann die EU, die doch so gerne ein Friedensprojekt sein möchte, helfen? Direkt wohl kaum. Denn das Problem konnte schon nicht gelöst werden, als Spanien, das seit 1982 Nato-Mitglied war, 1986 der EU beitrat. Die EU ist offensichtlich schwach in der Beilegung solcher Konflikte, das zeigt ein anderer Fall sozusagen am anderen Ende des britischen Reichs – Nordirland.

Mithilfe der EU könnten aber sehr wohl viele Reibungspunkte behoben werden. Dies würde aber eine vertiefte Mitwirkung der Briten in der EU erfordern, insbesondere im Schengen-Abkommen. Wenn dereinst hüben wie drüben die gleichen Lebensbedingungen (auch für Geldwäscher und Glücksspieler) herrschten und der europäische Luftraum wirklich zu einem «open sky» würde, wäre es schwierig bis unmöglich, die derzeitigen Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten.

Aber vielleicht entscheiden die Geschichte dereinst ganz andere Akteure. Laut einer Legende hängt die Anwesenheit der Briten von den Affen ab: Demnach wird Grossbritannien den Felsen verlieren, sobald der letzte Affe Gibraltar verlassen hat.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 23.08.13

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