Emma Martinovic hat das Massaker auf Utoya überlebt. Sie konnte fliehen und hat es doch nie weggeschafft.
Emma Martinovic hat Angst vor Silvester. Sie fürchtet den Neujahrsabend, wenn Schlussstriche gezogen werden und gute Vorsätze gefasst. Vergangenheit und Zukunft haben sich bei ihr untrennbar ineinander verhängt. Ein schweres Bündel, das an ihr zieht. Wie nasse Kleider am Körper beim Schwimmen.
Neujahr will sie also so begehen: «Ich will mich bei meiner Familie verkriechen und den ganzen Tag verschlafen.» Mit Tabletten, ohne findet sie keine Ruhe. Ohne kommt «der Bastard», wie sie ihn nennt, sobald sie die Augen schliesst.
Sie hört ihn rufen: «Ihr werdet hier nicht wegkommen!» Der Bastard steht auf dem Felsen, er trägt eine Polizeiuniform, hat blonde Haare, eine weisse Haut. Sie sieht die Polizeimütze, sie sieht seine Waffe. Er scheint in ihre Richtung zu schauen und zu sehen, wie sie davonschwimmt. Er legt an. «Poof, einer vor mir wird erschossen, ich sehe das Blut heraustreten, ich schwimme schneller. Ich lege mich auf den Rücken und sehe, wie er auf die schiesst, die sich im Wasser verstecken. Ich sehe die Panik, ich will an Land zurück und alle ins Wasser stossen. Ich schreie ‹schwimmt oder rennt!›, aber der Lärm ist zu gross. Ein Helikopter über uns und der Bastard, der schiesst.»
Therapie Blogschreiben
Die Geschichte ihrer Flucht von der Insel Utoya lässt Emma Martinovic nicht mehr los. Sie versucht, sie wegzuschreiben, in einem Blog, den sie bereits am zweiten Tag nach dem Massaker angefangen hat. Insgesamt 15 Überlebende von Utoya haben solche Blogs eingerichtet. Die meisten meiden das Persönliche, schreiben über Politik, über die sozialdemokratische also, die Anders Behring Breivik am 22. Juli erledigen wollte zur Verwirklichung seiner rechtsradikalen Fantasien, als er erst im Regierungsviertel von Oslo eine Autobombe zündete und danach nach Utoya übersetzte und gesamthaft 77 Menschen tötete. Emma Martinovic schreibt vor allem über sich und die Wunden, die Breivik in ihre Seele geschlagen hat.
Vom Jugoslawienkrieg geflohen
Martinovic ist gerade 19 Jahre alt geworden, sie lebt in Kristiansand, einer Stadt in Südnorwegen mit 80 000 Einwohnern. Auf einer kleinen Polizeiwache im Dorf Sogne lässt sie sich zur Polizistin ausbilden. Mit 12 ist sie der Jugendorganisation der regierenden Arbeiterpartei beigetreten, dieser starken, stolzen Partei, die seit 60 Jahren die Politik Norwegens bestimmt. «Ich wollte mich immer für die Gesellschaft einsetzen, deshalb bin ich so früh in die Politik gegangen», sagt Martinovic. Bereits ihr Vater war Politiker, allerdings noch in Sarajevo, wo sie zur Welt gekommen ist. Während des Jugoslawienkriegs flüchtete die Familie aus Bosnien nach Norwegen.
Man kann Martinovic auf Videos der Arbeiterpartei sehen, wie sie an einem Parteitag im Frühjahr spricht, sich verhaspelt und den Tritt wiederfindet. Man kann sich die Alten der Partei in der ersten Reihe denken, wie sie erleichtert und ein bisschen stolz auf die junge Frau blicken, die wie viele Nachwuchsleute der Sozialdemokraten aus einer Migrantenfamilie stammt und für den Erfolg der norwegischen Integrationspolitik steht.
Utoya war das Sommerfest der Partei. Eine Insel im Tyrifjord, die aus der Luft ausschaut wie ein Herz. Wo sich die Partei Jahr für Jahr erneuerte und die Blutbahnen aus dem ganzem Land zusammenliefen, die Alten ihr Wissen weitergaben und die Jungen sich in Workshops die Zukunft erdachten. Wie wichtig Utoya ist, zeigt sich daran, dass Premierminister Jens Stoltenberg seit seinem 14. Lebensjahr jeden Sommer dort war.
Wie war es auf der Insel? «Es war eine unbeschreibliche Freude», sagt Martinovic. Utoya war ein Lagerfeuer, an dem einer die Gitarre auspackte und bis vier Uhr morgens gesungen wurde, ein Weg im Wald, den sie Liebespfad getauft haben, weil dort die Teenager ihre grosse Lagerliebe fanden. Und jetzt ist Utoya ein Grab, unendlich tief und dunkel.
Die Arbeiterpartei will auch in Zukunft ihr Sommerlager auf Utoya abhalten. Sie will sich die Insel zurückholen. Mehr als das Leben von 77 Menschen will sie Breivik nicht überlassen. Genauso wie Stoltenberg nach den Anschlägen gesagt hat, die Norweger würden sich ihre Toleranz nicht kaputt machen lassen und dass die Gesellschaft offen bleiben würde.
Nicht zurechnungsfähig
Dazu passt, dass zwei gerichtliche Gutachter Breivik für nicht zurechnungsfähig erklärt haben, weil er bei seinem Massaker aus einem Zustand der psychotischen Schizophrenie heraus gehandelt haben soll. An dem Tag, so sahen es viele Beobachter, hat die offene Gesellschaft Norwegen sich ihres Eindringlings entledigt.
Für Emma Martinovic war das ein schrecklicher Tag. «Ich war enttäuscht und wütend», sagt sie. Seither versuche sie, nicht mehr daran zu denken. Die Vorstellung, dass Breivik nicht die volle Verantwortung tragen muss für seine Taten, ist ihr unerträglich. Mit einem Freund ist sie durchgegangen, mit welchen Foltermethoden sie ihn quälen würde. Sie hat überlegt, ob die Todesstrafe für ihn angemessen wäre, aber den Gedanken wieder verworfen, weil das heissen würde, ein Stück ihrer Werte aufzugeben. Sie sagt, sie habe in ihrem Leben noch nie zuvor gehasst.
Jetzt wird Breivik der Prozess gemacht. Martinovic will im Gerichtssaal dabei sein. Als Zeugin oder als Beobachterin. Sie will Breivik gegenüberstehen, wenn er keine Waffe und Uniform trägt und verletzlich und unsicher ist.
Leser wundern sich
Breivik hat ihr viel genommen. Einmal schrieb ein Leser auf ihrem Blog, er habe sie in Kristiansand im McDonald’s gesehen und den Eindruck gehabt, sie sei aggressiv und verhärtet. «Leider hat sich meine Persönlichkeit verändert», sagt sie dazu, fünf Monate nach Utoya. «Ich registriere jede Bewegung der Leute und jedes Geräusch. Ich bin misstrauisch. Ich fürchte mich. Ich weine, ohne zu verstehen warum. Ich weine, wenn es am wenigsten angebracht ist. Es gibt Leute auf meinem Blog, die fragen, warum ich so wütend dreinschaue. Ich will mich nicht verteidigen müssen, warum ich wütend dreinschaue. Manche Leute sollten verstehen, dass sich eine Person verändert, wenn sie ihre Freunde hat sterben sehen.»
Andere (Norweger) schreiben ihr, ob es nicht an der Zeit sei, über Utoya hinweg zu kommen. Geschehen sein lassen, was geschehen ist. Von den anderen Überlebenden würde man auch nicht mehr so viel hören.
Es gibt selbst solche, die Breivik in Schutz nehmen. Die behaupten dann, dass Breivik auch zum Opfer geworden sei. Mehrfach sogar. Von Migranten in seiner Jugend. Martinovic antwortet auch darauf: «Ich muss in den sauren Apfel beissen und ihnen höflich zurückschreiben. Obwohl ich weinen will und sie anschreien, sie mögen doch zur Hölle fahren. Aber ich stelle meine Gefühle zurück und antworte mit Fakten und Wissen.»
Die Öffentlichkeit ist manchmal unbegreiflich bösartig. Martinovic stellt sich ihr, weil ihr das helfen soll. Sie bittet darum, ihr Fragen zu stellen, die sie sich nicht stellen würde. So will sie das Trauma überwinden, das dem von Kriegsversehrten entspricht, wie ihr die Psychologen attestiert haben.
Es ist ein weiter Weg, von dem sie immer wieder abgebracht wird. Ein platzender Ballon, der Schrei eines Kindes im Spiel, und die Bilder sind wieder da, erzählt sie. Dann denkt sie an die Freunde, die vor ihren Augen hingerichtet worden sind. Sie sieht den Helikopter über ihr, der nicht von der Polizei ist, sondern vom norwegischen Fernsehen, das die Kamera voll auf sie richtet. Sie sieht sich schwimmen im eiskalten Wasser.
Sie sieht das Blut, das aus einer Einschusswunde am linken Arm läuft. Sie schwimmt immer weiter weg von der Insel, vom Chaos, von den Schreien. Hinter ihr ist kaum mehr jemand. Sie sieht einen kleinen Jungen im Wasser. Er schaut sie an: «Mein Vater ist tot.» – «Du darfst nicht zurückblicken», sagt sie. Sie sieht eine Freundin, die kaum mehr kann. Sie nimmt ihren Arm über ihre Schulter und schleppt sie mit. Zu dritt erreichen sie schliesslich ein Boot, das sie aufnimmt und ans Ufer bringt.
Wie soll sie das hinter sich lassen, an was für eine Zukunft kann sie denken? Es ist die einzige Frage in unserem Interview, die sie unbeantwortet lässt.
Hoffnung Heimat
Vielleicht kann das Heimatland eine Antwort geben. Es hat ihr Briefe geschickt und Bilder und Blumen. Vor allem aber ist es zusammengerückt. «Ich bin so stolz!», sagt Emma Martinovic. «Die norwegische Nation ist stärker als je zuvor. Ich war so stolz, als nach dem Anschlag all die Leute in Oslo zusammenkamen und alles voller wunderschöner Rosen war. Und ich bin immer noch stolz, wenn ich sehe, wie die Menschen in diesem Land miteinander umgehen, ungeachtet der Parteizugehörigkeit, des Geschlechts, der Religion, der Sexualität, der Hautfarbe.»
Norwegen habe sich verändert. Trotz – nicht wegen Breivik. Als sich unlängst ein Mitglied der rechtspopulistischen Fremskrittspartiet über die Opferrolle der Sozialdemokraten beklagte, ging ein Aufschrei durch das Land.
Emma Martinovic schliesst mit einem Satz, der vielleicht der schönste und aussergewöhnlichste ist: «Norwegen hat am 22. Juli mehr Liebe als Hass gezeigt.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30/12/11