Gefühle bestimmen die Politik

Von Fusionsabstimmung bis Masseneinwanderungsinitiative: Es geht in der Schweizer Politik fast immer um Unabhängigkeit – und Emotionen.

Letzten Herbst brannten im Baselbiet – hier auf der Sissacher Fluh – sogenannte Höhenfeuer gegen die Kantonsfusion. Symbolpolitik ist auch auf nationaler Ebene en vogue. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Von Fusionsabstimmung bis Masseneinwanderungsinitiative: Es geht in der Schweizer Politik fast immer um Unabhängigkeit – und Emotionen.

Eine Opernstimme tönt durch das Festzelt, im Hintergrund das Baselbieter Wappen. Florian Schneider besingt den «Rotstab vo Lieschtel», gekommen sind die Gegner der Fusionsinitiative aus der Laufentaler Gemeinde Brislach. Anschliessend an die musikalische Einlage zünden die Gegner ein Feuer an, das von den Hügeln herab strahlen soll – sogenannte Höhenfeuer als Zeichen der Eigenständigkeit.

Die Szene liegt fünf Monate zurück, sie könnte auch vor 20 Jahren stattgefunden haben und ist vermutlich noch in zehn Jahren aktuell. Die Sehnsucht nach Unabhängigkeit beschäftigt die Baselbieter – und auch Schweizerinnen und Schweizer anderswo im Land. Im Herbst sind nationale Wahlen, Heimatgefühle und Selbstbestimmung stehen bereits heute auf den Agenden der Parteien.

Auftritt von Florian Schneider am 6.9.2014 in Brislach:

 

Dass Gefühle einen Einfluss auf Politik haben, das haben die Wahlresultate im Baselbiet jüngst wieder einmal gezeigt. «Die Fusionsabstimmung von letztem Jahr könnte ein Aspekt sein, der zum guten Ergebnis der SVP und FDP in den Landratswahlen beitrug», meint der Politikwissenschaftler Rolf Wirz von der Universität Bern.

Der Politologe Mark Balsiger sieht das ähnlich: «Die SVP konnte bei der Fusionsabstimmung deutlich punkten, da sie die einzige Partei war, die diese Frage konsequent beantwortete.»

Was heisst konsequent? Die Rechten sangen Lieder, zündeten Feuer und hielten volkstümliche Reden. Wer nach rationalen Argumenten suchte, fand wenig.

Der Widerstand gegen die Fusionsidee gründete in erster Linie auf diffusen Gefühlen: Angst vor Fremdbestimmung, Skepsis vor Zentralisierung. Politische Entscheide sollten nicht weit weg in der Stadt fallen, sondern in der unmittelbaren Umgebung, am besten direkt vor der Haustür – so die Gemütslage vor der Abstimmung.

Was Basel für Liestal bedeutet, ist Brüssel für die Schweiz.

Dass Gemeinden wie Brislach rein geografisch näher bei der Stadt liegen als bei Liestal, spielte bei der Entscheidung offenbar keine Rolle. In Brislach stimmten 77 Prozent gegen die Prüfung einer Kantonsfusion.

Was im Baselbiet ablief, ist bezeichnend für die gesamtschweizerische Situation. «Auch im nationalen Wahlkampf spielt die Frage der Unabhängigkeit, des Bewahrens des Status quo eine wichtige Rolle», sagt der Politologe Mark Balsiger.

Was Basel für Liestal bedeutet, ist Brüssel für die Schweiz. Die EU wird als Drohkulisse für Fremdbestimmung aufgebauscht. In der Bevölkerung und unter Politikern grassiert die Angst vor Kontrollverlusten.

Im Grunde geht es darum, dass die Bürger ihr Schicksal und das Schicksal ihres Landes selbst bestimmen wollen. Im Vorfeld der Masseneinwanderungs-Initiative hiess es programmatisch: Wir sollten eigenständig entscheiden, wer in unser Land kommt und wer nicht.

SVP-Sympathisanten behaupteten, die Schweiz sei das einzige Land auf der Welt, das seine Zuwanderung nicht eigenständig steuern könne. Unerwähnt blieb das komplizierte Verhältnis, in dem sich die Schweiz und die EU befinden.

Wo sind die Grenzen der Unabhängigkeit?

Kaum ein anderes Land auf der Welt hat ein solch ambivalentes Verhältnis zu seinen umliegenden Ländern. Die Schweiz ist wirtschaftlich und strukturell eng mit den Nachbarstaaten und der EU verwoben, will aber die Hoheit über die Einwanderungspolitik zurückerlangen. Wie das etwa mit der Situation von 70’000 Grenzgängern in der Region Basel vereinbar ist, bleibt unbeantwortet.

Was heisst Unabhängigkeit für die Schweiz in einem vernetzten Europa? Wo sind die Grenzen der Unabhängigkeit?

«Grundsätzlich teilt die souveräne Schweiz alle wesentlichen Fragen mit anderen Staaten», sagt der Historiker Georg Kreis. Grosse Fragen, wie beispielsweise die Klima- oder die Flüchtlingspolitik, ja sogar die Landesverteidigung müsse man global abstimmen – dort gibt es keine unabhängigen Entscheidungen.

Andere Fragen, zum Beispiel ob wir in der Schweiz acht oder zehn Feiertage haben und den 1. August zum Nationalfeiertag erklären, das könne der Staat eigenständig regeln.

Die komplexen Verhältnisse, in denen sich die Schweiz befindet, sind für viele schwer verständlich. Das Gefühl von Selbstbestimmung ist hingegen etwas, das jeder versteht. Politiker wissen das und setzen alles daran, einfach Antworten auf komplexe Fragen zu geben.

Gerade in turbulenten Zeiten tauche dieses Phänomen auf, meint Mark Balsiger. «Wenn die Globalisierung als Gefahr wahrgenommen wird, suchen viele Menschen Orientierung bei Parteien, die bewahren und einfache Antworten bereithalten.»

Simonetta Sommaruga will «Schritt für Schritt» vorgehen. Dabei scheint der Bundesrat in der Einwanderungsfrage auf der Stelle zu treten.

Das Thema Masseneinwanderungs-Initiative ist weiterhin ein Top-Thema in der Schweizer Politik und wird vermutlich auch den nationalen Wahlkampf bestimmen. Dass der Bundesrat bei der Einwanderungsfrage keine Antwort bereithält, zeigte sich am Mittwoch, als er ein erstes Konzept präsentierte.

Justizministerin Simonetta Sommaruga betonte, sie wolle «Schritt für Schritt» vorgehen. Dabei wirkt es so, als ob der Bundesrat in der Einwanderungsfrage auf der Stelle tritt.

Seit einem Jahr ist klar, dass das Land innenpolitische Massnahmen braucht – beispielsweise zur Ausbildung von Pflegefachpersonal. Nun kommt ein zögerlicher Vorschlag zur Förderung von mehr Fachkräften.

Wer profitiert vom Vabanque-Spiel um die bilateralen Verträge?

Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigt, dass 58 Prozent der Bevölkerung die bilateralen Verträge mit der EU für wichtiger befinden als die Masseneinwanderungsinitiative. 35 Prozent ziehen die strikte Umsetzung der SVP-Initiative vor.

Trotzdem würden Politiker mit einem Votum für die Bilateralen kaum Wähler gewinnen, meint der Politologe Michael Hermann: «Die SVP trifft mit ihrer Einstellung die Meinung von rund 35 Prozent der Bevölkerung. Die SVP hat also in dieser Frage ein grösseres Wählerpotenzial als die übrigen Parteien.»

Im Baselbiet hat der «Bürgerliche Schulterschluss» zwischen SVP und FDP bestens funktioniert. Doch auf nationaler Ebene bleiben die Gemeinsamkeiten auf der Strecke. Die zentrale Frage: Bilaterale künden oder nicht, spaltet das bürgerliche Lager auf nationaler Ebene mehr denn je.

Aus dem «Echo der Zeit», 9.2.2015: Rücken die SVP und FDP nun näher zusammen?

 

Der FDP-Chef Philipp Müller betont, die inhaltlichen Differenzen mit der SVP, etwa in der Europapolitik, seien zu gross. Kooperationen und Listenverbindungen lehnt Müller deshalb ab.

Freisinnige, Mitte-Parteien und Linke fahren einen gradlinigen Kurs in Sachen Europapolitik: Sie wollen die Bilateralen um jeden Preis beibehalten.

Ob sich ihre gradlinige Politik auszahlen wird, ist offen. Das Beispiel Baselland hat gezeigt, dass Emotionen rationale Argumente ausstechen.

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