Geliebtes Feindbild: Muslime als willkommene Gegner für die Retter des Abendlandes

Kopftücher, Scharia, Minarette – das dominante Islam-Bild hat wenig mit der Realität zu tun. Doch für die SVP und andere Retter des Abendlandes gehört Hetze gegen Muslime zum politischen Geschäft.

(Bild: SANDRO CAMPARDO)

Kopftücher, Scharia, Minarette – die verbreiteten Vorstellungen des Islam haben wenig mit der Realität zu tun. Doch für die SVP und andere Retter des Abendlandes gehört Hetze gegen Muslime zum politischen Geschäft.

Im Vorfeld der Abstimmung zur Masseneinwanderungsinitiative tauchte plötzlich, doch nicht überraschend, ein Grossinserat auf. Es stellte in Aussicht, dass «bald» eine Million Muslime in der Schweiz leben würden. Das Ziel der Aktion war klar: Man wollte den Bürgerinnen und Bürgern einmal mehr Angst machen.

Was Muslime aus dieser Sicht bedeuten, wurde mit einer schwarz verschleierten Frau signalisiert: Durch den schmalen Augenschlitz blickt sie uns aus dem in roter Farbe anschwellenden Strom der Muslime entgegen, was eine ungerechtfertigte Gleichsetzung der in der Schweiz lebenden muslimischen Bevölkerung mit einer abnormen Extremvariante zum Ausdruck bringt.

Ein anti-islamischer Gewöhnungseffekt

Mit einem ähnlichen Inserat waren SVP-Agitatoren bereits 2004 in der Kampagne gegen die erleichterte Einbürgerung angetreten. Während jener Auftritt noch breiten Protest bis ins bürgerliche Lager ausgelöst hatte (etwa bei FDP-Parteipräsident Rolf Schweiger oder bei Arbeitgeberpräsident Peter Hasler), blieben die öffentlichen Verurteilungen der analogen Inserate im Januar/Februar 2014 aus. Haben sich weite Teile der Bevölkerung an den Anti-Islamismus gewöhnt oder ihn in Ansätzen sogar übernommen?

Nötig wäre es vielmehr gewesen, sich in der Zwischenzeit an die vermehrte Anwesenheit von Muslimen zu gewöhnen und in ihnen nicht eine Gefahr fürs Vaterland zu sehen. Nötig, damit die muslimische Bevölkerung nicht einer gehässigen Fehleinschätzung ausgesetzt ist. Nötig aber auch, damit die nicht muslimische Mehrheitsgesellschaft den Muslimen nicht mit unberechtigten Sorgen begegnet.

Zunahme der muslimischen Bevölkerung

Der Anteil der als muslimisch registrierten Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten tatsächlich grösser geworden. 1960 umfasste die muslimische Minderheit erst 3000 Menschen (wovon 130 mit schweizerischer Staatsbürgerschaft). 1980 waren es bereits 56’000 (wovon 3000 mit schweizerischer Staatsbürgerschaft). Zwischen 1980 und 1990 kam es zu einer Verdreifachung auf 152’000 Menschen muslimischen Glaubens. In der Volkszählung von 2000 wurden 310’806 Muslime registriert (wovon zwölf Prozent Schweizer waren). Dies bedeutete eine Verdoppelung innerhalb eines Jahrzehnts. Begründet liegt diese Zunahme vor allem im Konflikt in Ex-Jugoslawien und in der Umwandlung von sogenannten Saisonniers in feste Aufenthalter, die in der Volkszählung erfasst wurden.




So sehen für Schweizerinnen und Schweizer DIE Muslime in der Schweiz aus. Doch nur eine Minderheit ist religiös. (Bild: SANDRO CAMPARDO)

Die wirkliche Zahl könnte sogar grösser sein, weil einige aus Angst ihre Religion nicht angeben und es vorziehen, als «konfessionslos» registriert zu werden. Zwischen 2000 und 2010 ist die Zahl nur noch wenig angestiegen. Alles in allem kann man davon ausgehen, dass die Muslime heutzutage rund fünf Prozent der Wohnbevölkerung ausmachen. Allerdings: Die Muslime und den Islam gibt es nicht, dagegen eine erhebliche ethnische und nationale Diversität.

Vorbild Schweizer Armee

Die Frage ist, was man daraus ableiten soll. Dass man die Muslime weiterhin als nicht hierher gehörig einstuft und behandelt? Oder vielmehr, dass man ihnen als Einheimischen einen Platz in unserer Gesellschaft gibt: in den Schulen, in der Arbeitswelt, in der Verwaltung, in den Medien, im religiösen Leben – auf den Friedhöfen in «eidgenössischer» Erde! Als Vorbild dienen kann die Schweizer Armee mit ihrer selbstverständlichen Rücksichtnahme auf die Esskultur strenggläubiger Muslime.

Man sollte Muslime aber auch nicht «muslimischer» machen, als sie sind oder sein wollen. Stattdessen gilt es zu akzeptieren, dass auch unter ihnen viele so wie manche Christen und Juden ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihrer religiösen Herkunft haben. Es gibt auch Muslime, für die ihre Religionszugehörigkeit schlicht keine Rolle spielt.

Man sollte Muslime nicht «muslimischer» machen, als sie sein wollen.

Auch eine ernsthafte Religiosität muss nicht zu gegenseitiger Religionsfeindschaft führen, sondern kann im Gegenteil gegenseitig Respekt und Grundverständnis möglich machen. Es sind recht oft die wenig gläubigen Christen, welche meinen, plötzlich besonders eifrig «ihr» Christentum verteidigen zu müssen, wenn sie eine nicht christliche Gläubigkeit wahrnehmen, die kräftiger als die ihrige ist.

Religion gibt Halt in der Fremde

Und was passiert mit Weihnachten, ist sie denn nicht gefährdet? Ein Pseudoskandal bestand darin, dass im Dezember 2006 die unzutreffende Behauptung verbreitet wurde, wonach falsche Rücksicht auf Muslime zur Abschaffung der Schulweihnacht führen könnte. Obwohl die muslimischen Organisationen die Durchführung von Schulweihnachten explizit begrüssten, nutzte die SVP sogleich den Moment und stellte in Inseraten Weihnachten als vom Islam bedrohtes Christenfest dar.

Bei Auswanderern – im Ausland auch in der christlichen Variante – kann man feststellen, dass Migration in die Fremde zu einer verstärkten Bindung an die Religion des Herkunftslandes führt, zumal die religiösen Institutionen in der neuen Heimat wichtige Stützpunkte sowohl für die Alltagsbewältigung als auch für den inneren Halt bedeuten. Dies ist ein Grund mehr (neben dem Prinzip der Gleichbehandlung), diesen Institutionen einen anerkannten und etablierten Status zu geben.

Beleidigende Ermahnungen

Vielleicht muss man hier auch sagen, dass die muslimische Religiosität wie jede andere die Rechtsordnung zu respektieren hat. Das gilt ohne Frage auch für die Scharia-Kultur, von der allerdings die wenigsten eine richtige Vorstellung haben.

Das Anmahnen des hier geltenden Rechts mag im Falle der Muslime bei einer kleinen Minderheit in der kleinen Minderheit nötig sein, weil diese mit dem Prinzip der Trennung von Kirchlichem und Säkularem und mit dem Primat der Staatsordnung weniger vertraut sind. Aber das wiederholte Ermahnen, sich gefälligst an die Gesetze zu halten, ist letztlich eine Beleidigung der Mehrheit der Muslime, die eine solche Mahnung nicht nötiger hat als die alteingesessenen Nichtmuslime.

Im Herbst 2004 befasste sich die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerats mit dem Thema «Muslime in der Schweiz». Dabei ging es nicht, wie man auch hätte meinen können, um die zuweilen prekäre Sicherheit der muslimischen Minderheit. Sondern um die scheinbar durch Muslime bedrohte Sicherheit der schweizerischen Mehrheitsgesellschaft. Man redete lieber über Terroristenrekrutierung, Ehrenmorde, Frauenentführungen und hörte ungern die Botschaft, dass Muslime Teil der Normalbevölkerung sind und einen normalen Platz in der pluralistischen Gesellschaft haben: Normalbevölkerung im Sinne einer Mischung aus Andersartigkeit und Gleichartigkeit.

In der Angstwolke

Das dominante Muslim-Bild hat mit der Realität wenig zu tun. Die Einschätzungen, wie sie sich auch 2009 mit den 57,5 Prozent Zustimmung zur Anti-Minarett-Initiative manifestierte, entsprangen einer Angstwolke und nicht konkreten Erfahrungen. Schon 1999 stellte die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) fest: «Wir kennen keine Schweizerin, keinen Schweizer, die oder der mit MuslimInnen näher in Berührung gekommen ist und diesen Kontakt bereut. Leider kommen solche Kontakte aber kaum zustande.» (Tangram 1999).

Eine Lizentiatsarbeit der Universität Basel (Simone Bretscher, 2009) stellte fest, dass die sogenannten Ängste nicht mit der Zahl der in der Schweiz niedergelassenen Muslime oder der Minarette zunahm. Abgesehen von ausserschweizerischen Vorkommnissen (dem 11. September, der Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh, dem Karikaturenstreit) war die wachsende Irritation vielmehr die zunehmende, aber nicht über Statistiken erfassbare Sichtbarkeit der Muslime und Musliminnen zuzuschreiben.

Sichtbarkeit als Zeichen der Zugehörigkeit

Diese ergab sich jedoch nicht einfach aus der Zahl der Frauen mit Kopftüchern, sondern aus dem öffentlichen Eintreten für die Gewährung von religionsbedingter Lebensgestaltung (privater Religionsunterricht in staatlichen Schulhäusern, Halal-Läden, Bestattungen nach muslimischem Ritus, Gebetspausen im Alltag und schliesslich Minarette). Dies ist weniger ein Indiz für die Zunahme religiöser Radikalität, sondern vielmehr ein Hinweis, dass die muslimischen Zuwanderer nach längerer Zeit des mentalen Migrantenstatus auch innerlich angekommen sind und sich zu diesem Land gehörig fühlen.

Ein Vorbote der eidgenössischen Minarett-Abstimmung vom November 2009 war die Abstimmung im November 2003 über den Status aller Kirchen im Kanton Zürich. Mit eindeutig unwahren Angaben wurde der Wählerschaft vorgemacht, dass im Falle einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung muslimischer Religionsgemeinschaften mit Steuergeldern – und zwar mit Millionen! – «Koranschulen» finanziert werden müssten.

Es stellte sich aber heraus, dass eine solche Anerkennung einzig zur Folge haben könnte, dass die staatliche Universität allenfalls auch muslimische Theologen ausbilden müsste. Doch schon das war den fundamentalistischen Anti-Islamisten zu viel, sie sahen darin einen Freipass für die «weitere Islamisierung» der Gesellschaft.

Eine schweizerische Ausbildung von muslimischen Theologen, die dann als Gemeindevorsteher und Bindeglied zwischen Religionsgemeinschaft und Gesellschaft eine konstruktive Rolle spielen könnten, war und ist bei den Verteidigern des Abendlandes unerwünscht – denn dies würde die weitere Pflege eines geliebten Feindbildes erschweren.

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