Die georgische Verteidigungsministerin Tinatin Khidasheli redet im Interview über Schwächen der Nato angesichts der Krise in den Beziehungen zu Russland und warum Georgien trotzdem ins Verteidigungsbündnis strebt.
Angesichts der Situation im gesamten postsowjetischen Raum – wo sehen Sie die grössten strategischen Herausforderungen für Georgien?
Tinatin Khidasheli: Das vergangene Jahr war kompliziert. Alle Länder in der Region suchen Wege, um aus der Krise zu kommen und zu überleben. Die Entwicklungen in der Ukraine geben nicht viel Raum für Optimismus. Jeder muss seine Wahl treffen, nicht nur die Länder in der Region – auch unsere Partner und Freunde. Ich bestehe auf der Ansicht, dass die Herausforderungen, die Russland gerade bereitet, nicht gegen Tiflis, Kiew, Baku oder Eriwan gerichtet sind. Es geht um Washington, Brüssel und alle anderen Hauptstädte des Westens. Der Ball liegt gerade auf der anderen Seite des Spielfelds.
Beim EU-Gipfel Ende Mai in Riga ging es um die Länder, welche die Europäische Union mit Assoziierungsabkommen näher an sich binden will. Dazu gehört auch Georgien. Welchen Eindruck hat der Gipfel bei Ihnen hinterlassen? Die erhofften Visa-Erleichterungen gab es ja nicht.
Ich würde sagen, es war ein sehr positiver Gipfel. Ja, Visa-Liberalisierungen gab es noch nicht für Georgien. Aber es gab eine prinzipielle Entscheidung darüber, und es ist nur eine Frage der Zeit – kurzer Zeit. Ich denke positiv: Wir haben mit Ende 2016 einen festen Termin, wir haben einen Zeitrahmen. Jetzt ist das Abkommen nur mehr eine Frage der technischen Umsetzung.
Macht die EU derzeit genug für ihre assoziierten Mitglieder im Osten Europas?
Man kann immer sagen, es ist Platz für mehr. Aber alles in allem: Die EU ist verlässlich dabei, ihre Versprechen zu erfüllen. Wir können die zeitliche Abstimmung diskutieren, wir könnten sagen, gewisse Dinge hätten zwei Jahre früher gemacht werden können, aber wir leben in einer realistischen Welt. Man kann sagen, die EU macht einen sehr guten Job in den Beziehungen zu uns.
Gilt das auch für die Nato?
Da gibt es einen Unterschied, das kann man nicht leugnen. Wir sind in den Beziehungen zur Nato in einer umgekehrten Lage verglichen mit den Beziehungen zur EU: Die technische Arbeit ist von unserer Seite erledigt; was fehlt, ist die politische Entscheidung zur Aufnahme in den Membership Action Plan (MAP) und in der Folge zu einer Mitgliedschaft – die uns beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest versprochen wurde.
Es gibt aber noch die Frage der abtrünnigen Territorien Südossetien und Abchasien, die die Nato abschreckt. Schliesslich stehen da russische Truppen, und sie werden von Russland anerkannt.
Für die Mitgliedschaft ist das ein Hindernis, für die Aufnahme in den MAP sehe ich das nicht. Es gibt keine kollektive Sicherheit. Aber wenn Russland mit dem, was es in der Ukraine derzeit tut, durchkommt, wird es in der Ukraine nicht stoppen. Nato oder EU können nicht weiter so agieren, wie sie es heute tun – im Reaktionsmodus. Leider sind unsere Möglichkeiten in Tiflis limitiert. Wir haben unsere Wahl getroffen. Der Nato-Warschau-Gipfel im kommenden Jahr muss uns eine klare Antwort geben. Es ist der Moment gekommen, an dem wir nicht noch einmal vertröstet werden können.
«Aus Moskauer Sicht sieht die Nato definitiv schwach aus. Aus der Sicht von Tiflis tut sie das nicht.»
Der Krieg in der Ukraine hat auf der anderen Seite ganz offensichtliche Schwächen der Nato sichtbar gemacht. Ist denn die Nato tatsächlich ein Sicherheitsfaktor für Ihr Land oder vielleicht doch mehr ein Risiko?
Es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man das betrachtet. Aus Moskauer Sicht sieht die Nato definitiv schwach aus. Aus der Sicht von Tiflis tut sie das nicht. Sie ist heute weitaus resoluter, stärker, als sie es 2008 war, als wir im Krieg mit Russland waren. Aber wenn Moskau nicht überzeugt ist, dass die Nato-Prinzipien bestehen, was wird sie stoppen? Uns in den MAP zu lassen würde die Nato stärken. Die Nato braucht uns derzeit mehr als politisches Signal an Russland als wir sie.
Was würde es bedeuten, wenn Georgien nicht in den MAP kommt?
Es wäre nicht das Ende Georgiens, aber es wäre eine Tragödie.