Er wirkt wie ein Philosoph, spielt wie ein Brasilianer und ist der «stille Anführer» der Italiener. Läuft es bei Andrea Pirlo nicht, läuft es bei Italien nicht. Gegen Costa Rica steht der 35-Jährige wieder im Mittelpunkt.
Mit seinem buschigen Vollbart und den zotteligen Haaren sieht er aus wie ein Relikt vergangener Tage. Vielleicht sogar wie ein Philosoph, in sich ruhend, dem der hektische Trubel einer Weltmeisterschaft schon gar nichts anhaben kann. Tatsächlich ist er auch so, die Ruhe in Person. Betritt er aber den Rasen, seine persönliche Bühne, zeigt sich der wahre Andrea Pirlo. Dann ist er der feine Dirigent, der Taktgeber und Inspirator im Spiel der italienischen Nationalmannschaft, quasi die Seele der Squadra Azzurra.
Sicher, Pirlo ist in die Jahre gekommen. 35 Jahre zählt er inzwischen, der Lombarde aus Flero bei Brescia, aber alt ist keineswegs schlecht. Dass er es noch immer kann, hat er gleich zum Auftakt der hochkarätig besetzten Gruppe D beim 2:1 gegen England bewiesen. 112 Pässe hat er da gespielt, 103 fanden den gewünschten Abnehmer. Und manchmal bedarf es auch gar keiner Arbeit, um für den genialen Moment zu sorgen.
Wie beim Führungstor, als er den Ball einfach zu Claudio Marchisio passieren liess, der schliesslich ungehindert einschoss. Am Freitag (18.00 Uhr MESZ) soll gegen Aussenseiter Costa Rica der nächste, womöglich schon entscheidende Schritt Richtung WM-Achtelfinale unternommen werden.
Denn gefürchtet sind nicht nur seine gestochen scharfen Pässe, sondern auch die unberechenbaren Freistösse. Wie besessen hatte er einst auf dem Trainingsplatz in Milanello die Freistosstechnik des Brasilianers Juninho, der zwischen 2001 und 2009 für Olympique Lyon spielte, zu kopieren versucht. «Anfangs musste der Betreuer die Bälle im Wald aufsammeln, dann funktionierte es», schrieb Pirlo in seiner Autobiografie «Penso quindi gioco» («Ich denke, also spiele ich»).
Und so war es ihm eine grosse Ehre, als Juninho dieser Tage plötzlich vorbeischaute im Casa Azzurri, dem Quartier der Italiener in einem Safariclub in der Bucht von Mangaratiba, und ihm ein Brasilien-Shirt mit der Aufschrift «Pirlinho» überreichte. Es zeigt auch die Wertschätzung, die ihm im Land der zigtausenden Fussball-Techniker entgegen gebracht wird. So wurde er im vergangenen Jahr beim Confederations Cup mit «Standing Ovations» von den brasilianischen Fans gefeiert, was Pirlo «sehr emotional» fand.
Genie schützt vor Training nicht: Andrea Pirlo hat ausgiebig Freistösse trainiert, nun sind sie eine Waffe. (Bild: ALESSANDRO GAROFALO)
Pirlo sei ein Dämon, scherzte Juninho. «Er hat meine Schüsse nicht nur kopiert, sondern noch verbessert.» Gegen England klappte es nicht ganz, da traf sein Schuss die Latte. In der Serie A hat er aber schon 25-mal auf diese Weise getroffen, nur zwei Freistosstore fehlen ihm noch bis zum Rekord von Sinisa Mihajlovic.
Was Pirlo kann, hat er gegen England gezeigt: Joe Hart konnte seinem Lattenknaller nur noch nachschauen. (Bild: KAI PFAFFENBACH)
Dass er die Marke erreichen wird, ist ziemlich wahrscheinlich. Gerade erst hat er seinen Vertrag in Turin um zwei Jahre verlängert. Italien muss sich aber auf die Zeit ohne ihren «stillen Anführer» (Marcello Lippi) einstellen. «Ich beginne langsam alt zu werden und beabsichtige, nach der WM meine Nationalmannschaftskarriere zu beenden», sagt der zweifache Familienvater und lässt sich ein Hintertürchen offen. «Aber wenn ich gebraucht werde, komme ich.»
In Brasilien wird er auf dem noch weiten Weg zum möglichen fünften Titel zweifelsohne benötigt.
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