Die nächtliche Schliessung von Grenzübergängen im Tessin ist reine Symbolpolitik. Dadurch werden weder Kriminelle noch Flüchtlinge aufgehalten, wohl aber die italienischen Nachbarn vor den Kopf gestossen.
Die kleine Schweiz besteht fast nur aus Grenzen. Dass 17 von 26 Kantonen Grenzkantone sind, daran ist auch in einer Ständeratsdebatte vom Dezember 2014 erinnert worden. Die Erörterung der Grenzproblematik wurde nötig, weil Nationalrätin Roberta Pantani (Lega/SVP) im März 2014 mit einer Motion forderte, dass im Tessin Grenzübergänge in den Nachtstunden geschlossen würden, damit ein besserer Schutz des Schweizer Territoriums erreicht werde.
Die Volkstribunin aus Chiasso kann jetzt einen kleinen Triumph feiern («una vittoria abbastanza netta»): Seit Anfang April werden nämlich drei der 22 Tessiner Grenzübergänge jede Nacht zwischen 23 Uhr und 5 Uhr geschlossen. Es geht um die Übergänge von Novazzano und Pedrinate (beide bei Chiasso) und von Ponte Cremenaga (bei Ponte Tresa).
Da diese Massnahme beim Publikum als das empfunden werden könnte, was sie ist, nämlich ein Witz, erklärten auffallend viele Medien, dass es sich keinesfalls um einen Aprilscherz handle, nicht um einen «pesce», wie das auf Italienisch heisst.
Mehr Grenzwächter statt Grenzschliessungen
Die Reaktionen in der kleinen Kammer waren in der erwähnten Debatte einhellig. Alle Rednerinnen und Redner wiesen auf die Grenzen ihrer eigenen Region hin: der Bünder auf sein Graubünden, der Genfer auf seine Region, und Anita Fetz auf das Basler Dreiland. Darum erwuchs dem Pantani-Vorschlag nicht der nötige Widerstand. Allerdings forderten die meisten Redner keine Grenzschliessung, sondern eine bessere Ausstattung der Grenzwache.
Im Oktober 2016 scheiterte ein Baselbieter Vorstoss (Daniela Schneeberger), der 100 zusätzliche Grenzwacht-Stellen forderte und davon mindestens ein Drittel für die Nordwestschweiz, ausgerechnet am Nein des Ständerats. Eine solche Aufstockung würde dem gegenwärtigen Sparprogramm des Bundes zuwiderlaufen, zudem solle man nicht mit regionalen Verteilungsvorgaben in die operativen Tätigkeiten der Grenzwache eingreifen.
In der Debatte von 2014 hatte sich die damals zuständige Bundesrätin, die Bündnerin Eveline Widmer-Schlumpf, ebenfalls für die Verstärkung des Grenzwachkorps ausgesprochen, 24 Stellen seien 2013 dazu gekommen, 35 im Jahr 2014, dies bei einem Gesamtbestand von rund 35’000.
Sie räumte zudem ein, dass es einen Bedarf von 100 Stellen gebe, um mit «vernünftigen Patrouillen» an den verschiedensten Grenzabschnitten Unterstützung zu leisten. Widmer-Schlumpf machte aber auch darauf aufmerksam, dass es gar nicht so einfach sei, auf die Schnelle geeignete Personen zu rekrutieren und auszubilden.
Längere Fluchtwege für Kriminelle
Inzwischen ist das Finanzdepartement, dem die Grenzwache wegen der Zolleinnahmen zugeteilt ist, in andere Hände geraten. Jetzt hat der ehemalige SVP-Präsident, der Maurer Ueli, das Sagen. Um die politische Dramatik anzuheizen, möchte er gegen den Willen der Grenzwache auch die Armee an der Landesgrenze sehen.
Das Grenzsicherheitsthema ist in den Händen der SVP und der Lega. Im Tessin macht Sicherheitsdirektor Norman Gobbi (wie Pantani in der Doppelmitgliedschaft Lega und SVP) die Tessiner Bevölkerung zusätzlich unsicher, indem er ebenfalls das Schliessen von Grenzen befürwortet, obwohl er gleichzeitig bekannt geben musste, dass die Einbruchdiebstähle 2016 im Vergleich zum Vorjahr auch im Mendrisiotto um 14 Prozent zurückgegangen sind.
Es bleibt aber die Situation, dass im Mendrisiotto die meisten Einbrüche und Überfälle auf Läden und Tankstellen von Kriminellen verübt werden, die sich nach begangener Tat über die nahe Landesgrenze absetzen. Die Grenzschliessungen sollten die Fluchtwege verlängern. In der Erörterung der Problematik zeigt sich aber, dass die Dinge schnell durcheinander geraten.
Eine Grenzschliessung nützt wenig gegen Flüchtlinge, da die meisten mit dem Zug oder über die Autobahn in die Schweiz kommen.
Der Grenzschliessung wird nämlich nicht nur die Funktion zugeschrieben, Flucht aus dem Land, sondern auch das Einströmen von Flüchtlingen in das Land zu erschweren, was ganz nach dem SVP-Programm ist. Mauro Antonini, Kommandant der Grenzwachtregion IV, musste darauf hinweisen, dass die neuerliche Grenzschliessung nicht als Massnahme gegen Flüchtlinge verstanden werden könne, da jetzt die meisten mit der Eisenbahn oder über die Autobahn in die Schweiz kämen.
Aus Italien wird auch darauf hingewiesen, dass die meisten Kriminaltaten nicht in der tiefen Nacht, sondern in der Zeit zwischen 18 Uhr und 20 Uhr verübt werden. Der in der letzten Woche bei Stabio begangene Überfall ereignete sich um 13.30 Uhr!
Ein anderer Überfallversuch im Dezember 2016 wurde bei Ponte Tresa zur Feierabendstunde unternommen und erregte besonderes Aufsehen, weil aus Fahndungsgründen der dortige Übergang für eine Stunde geschlossen und damit zahlreiche Pendler an der Heimkehr gehindert wurden.
Die momentane Dauerschliessung wird als Versuch von sechs Monaten deklariert. Dieser «Pilot» könnte aber Auftakt für eine Dauerschliessung sein. Was wird denn abgeklärt? Man wird wohl schauen, ob in dieser Zeit «merklich» weniger Verbrechen registriert werden als in einer vergleichbaren Zeit zuvor. Dass die Zahl der Delikte auch von anderem bestimmt sein könnte, muss man da unberücksichtigt lassen.
Der Preis populistischer Symbolpolitik
So weit zulässig, äussern sich die Profis des Grenzschutzes gegen die Politikermache. Mauro Antonini macht darauf aufmerksam, dass die Umsetzung der neuen Sicherheitsordnung die Sicherheit schwäche, weil jeden Abend und jeden Morgen an allen drei Orten zur gleichen Zeit die Grenze geschlossen und wieder geöffnet werden müsse. Aber die Sicherheitslage sei alles in allem besser als in der Zeit, da vor der Schengen-Mitgliedschaft zahlreiche Übergänge geschlossen waren.
Diese Erklärung geht an die Adresse derjenigen, die aus anti-europäischen Ressentiments für die Beibehaltung oder Wiedereinführung stationärer Grenzkontrollen statt der erweiterten Überwachung sind. Die Schweiz hatte Schengen im Juni 2005 mit 55 Prozent zugestimmt, das Tessin war mit 62 Prozent dagegen. Das Schengen-Abkommen erlaubt Grenzschliessungen, wenn in unmittelbarer Nähe andere Übergänge offen bleiben. Das ist beim jetzigen Regime der Fall.
Widmer-Schlumpf hatte in der Ständeratsdebatte von 2014 noch auf einen anderen Punkt der geforderten Grenzschliessung aufmerksam gemacht: Die nächtlichen Grenzschliessungen würden bauliche Massnahmen mit hohen Kosten zur Folge haben – 200’000 Franken pro Übergang. Dies ist nun neben der unvernünftigen Verschiebung des Personalaufwands ein weiterer Preis für die leichtfertige Befriedigung populistischer Symbolpolitik.
Bei der irrationalen Verteidigung des eigenen Nests ist es egal, wie das auf der anderen Seite ankommt.
Der helvetische Aprilscherz hat bei der italienischen Nachbarschaft grossen Ärger ausgelöst. Bei Ponte Tresa versammelten sich rund 20 protestierende Gemeindebürgermeister mit ihren trikoloren Schärpen im strömenden Regen. Auch der Regionalrat der Lombardei drückte seine Unzufriedenheit aus und bezeichnete die neue Situation als schädlich.
Der Protest galt der Massnahme, aber auch der im Moment ihrer Verwirklichung ausgebliebenen Vorwarnung. In Bern wurde gesagt, dass die Grenzschliessung bereits im März 2016 Thema zwischen den schweizerischen und italienischen Aussenministern Burkhalter und Gentiloni gewesen sei. Und der Maurer Ueli erklärte am Schweizer Fernsehen, Italien habe den souveränen Entscheid von Parlament und Regierung einfach zu akzeptieren.
Symbolpolitik kann in mehrere Richtungen Signale aussenden. In diesem Fall nicht nur, dass man Ängste ernst nehme, sondern dass es bei der irrationalen Verteidigung des eigenen Nests egal ist, wie das auf der anderen Seite ankommt. Dieser Unilateralismus steht im Widerspruch zu der in anderen Momenten als wichtig erklärten grenzüberschreitenden Regionalpolitik, wie sie im Südtessin unter dem Titel der Regio Insubrica nach dem Vorbild der Regio Basiliensis propagiert wird.
Eine Mehrheit der Tessiner findet, Grenzgänger würden einen wichtigen wirtschaftlichen Beitrag leisten – und gleichzeitig dem Wohlstand der Einheimischen schaden.
Was die praktischen Konsequenzen betrifft, wird sich mit dem seit dem 1. April geltenden Regime wenig oder nichts ändern: «Cambia niente!» Allerdings trägt es dazu bei, das Verhältnis zwischen den Nachbarn zu vergiften. Da dürften Ressentiments gegen die italienischen Frontalieri mit im Spiel sein. Im vergangenen September ist im Tessin die SVP-Initiative für den Inländervorrang (not light, but heavy) mit dem Titel «Prima i nostri» angenommen worden.
Meinungsanalysen haben dazu den typisch widersprüchlichen Befund ergeben: 83 Prozent der Tessiner Stimmbürger stimmen zu, dass Grenzgänger einen wichtigen wirtschaftlichen Beitrag leisten würden. Trotzdem sind zwei Drittel der Stimmbürger überzeugt, dass der Grenzgänger-Anteil dem Wohlstand der Einheimischen schadet.