Grímur Hákonarson: «Ich liebe es, gegen die Regeln zu verstossen»

Der isländische Regisseur Grímur Hákonarson sorgte mit «Hrutar» in Cannes für Aufsehen und wurde zum Sieger des diesjähren Zurich Film Festivals erkoren. Seine Schaf-Saga über zwei Brüder im hohen Norden ist ein Lobgesang auf den stillen Widerstand.

Der isländische Regisseur Grímur Hákonarson sorgte mit «Hrutar» in Cannes für Aufsehen und wurde zum Sieger des diesjähren Zurich Film Festivals erkoren. Seine Schaf-Saga über zwei Brüder im hohen Norden ist ein Lobgesang auf den stillen Widerstand.

Im isländischen Drama «Hrutar – Rams» haben sich die zwei Brüder Gummi und Kiddi nicht mehr viel zu sagen, die beiden alten Männer treffen sich nur noch am jährlichen Schafzuchtwettbewerb. Doch dann platzt eine Frau in die wortkarge Männerwirtschaft und bringt schlechte Neuigkeiten: Die Traberkrankheit geht um und bedroht die Existenz der beiden Sturköpfe.  

Herr Hákonarson, welchen eigenen Zeitbegriff kennt Island?

Die Natur hat bei uns ihre eigene Uhr. Sie prägt unser Leben. Sie beeinflusst unseren Alltag seit Jahrhunderten. Schafzucht erstreckt sich auch heute noch über Generationen. Ein Schaf scheren dauert Minuten – entschieden länger, als eine Maus klicken. Menschen, die der Natur ausgesetzt sind, entwickeln eigene Zeitbegriffe. Wenn ich mich viel unter Menschen bewege, muss ich mich zurückziehen können, um wieder Zeit zu finden. Auch Touristen wollen in Island der Hektik entfliehen. Man kommt zu uns, um durchzuatmen.

Selbst bei Eile trabt ein isländisches Pferd mit sehr kurzen Schritten. Ihr Film «Hrutar – Rams» entwickelt  diese Entschleunigung zu unterschiedlicher Wirkung: Widerstand, Sturheit, Naturverbundenheit.

Ich habe viele Szenen ungeschnitten gelassen, weil ich genau dies wollte: einen Realismus, der in den Köpfen der Zuschauer Raum für ein eigenes Zeitgefühl schafft und für Denken – für eigenständiges Denken.

Ein schnell geschnittener Film tut das nicht?

Nein. Ein ruhelos montierter Film appelliert nur an die Instinkte der Zuschauer. Mich hat das Thema Mensch in der Natur immer zum Nachdenken animiert. Auch das Aufeinanderprallen ihrer Zeitbegriffe. Für mich hat die Entschleunigung aber auch praktische Vorteile: Ich habe einen Film mit einem sehr kleinen Budget gemacht. Wir haben also in einem Bild viel einfangen müssen. Der Film ist in einer einzigen Gegend gedreht. So führt die Hauptstrasse in das Hochland genau an unserem Hof vorbei. Das war kostengünstig.




Der Bock mit dem schönsten Hintern gewinnt: Filmbild aus «Hrutar/Rams».

Ohne so zu wirken …

Ich hätte viel spektakulärere Landschaften in Island finden können. Aber ich wollte die Natur genau so in den Bildern sprechen lassen, wie ich sie selber erlebe. Sie verzeiht viel, aber sie ist erbarmungslos.

«Hrutar» ist auch ein Männerfilm. Die beiden Brüder nehmen an einem Züchter-Wettbewerb teil: Es gewinnt der Bock mit dem bestausgebildeten Hintern.

Hier sind die Regeln klar. Wenn zwei Schafshintern die gleichen Noten erhalten, wird der Muskel gemessen. Das macht den Unterschied. In unserem Fall ein Millimeter.

Ist die Geschichte der beiden Brüder nicht auch eine Liebesgeschichte?    

Ich erzähle die Einsamkeit zweier Brüder, deren Liebe verkümmert. Viele Männer bleiben auf den Höfen allein. Das kommt von den Verwüstungen der Industrialisierung. Agrikultur wird zu einem maschinellen Vorgang. Das treibt viele, vor allem Frauen, in die Städte. Dadurch entsteht dieses Überwiegen der Junggesellenbauern: Sie bleiben bei ihrer Familie – am Ende sind das die Tiere. Dadurch verliert die Liebe ihr Ziel zwischen Mann und Frau. Die beiden Brüder lieben ihre Schafe wie eine Familie. Beide haben nie eine Frau gefunden. So werden sie wie ein Ehepaar zusammen alt. Ihre Liebe scheint – wie bei einem langjährigen Ehepaar – eingefroren. Der eine Bruder ist etwas maskuliner, er trinkt. Auf ihn ist kein Verlass. Der andere etwas femininer. Er ist weitsichtig und fürsorglich.

Und die einzige Frau in ihrem Leben ist die Veterinärin, eine Dänin, eine Ausländerin, die ihre Existenz zerstört.

Sie ist die Gegenspielerin aus Vernunft.

Steckt darin auch eine Anspielung auf die Finanzkrise Islands?

Die beiden Brüder werden durch die Schafkrise gezwungen, ihr Lebenswerk aufzugeben. Sie sollen alle ihre Tiere töten. Da geht es ihnen ähnlich wie vielen Isländern, die vor zehn Jahren durch die Banker in tiefe Verzweiflung gestürzt wurden.

Grímur Hákonarson im Gespräch über seinen Film

Wie gross war Ihr Budget?

Insgesamt fast eine Million Euro. Das ist ein kleines Budget. Ich bin also gar nicht in Versuchung gebracht worden, einen isländischen Action-Thriller zu drehen.

Mit welchen anderen Filmemachern fühlen Sie sich stilistisch verwandt?

Man bringt mich in Island immer in die Nähe von Ken Loach. Ich versuche wie er, nicht mit den Erfindungen von Hollywood zu konkurrieren. Ich fange mit dem schmalen Budget Bilder von wirklichen Menschen in Island ein, ihre kleinen Kämpfe und grossen Verzweiflungen. Ich versuche als Künstler, das Timing aus Arbeit zu entwickeln. Arbeitende zu lesen. Das habe ich als Dokumentarist gelernt.

Ihre Figuren scheinen seit Jahrhunderten mit dem Ort verwurzelt. Beide Hauptdarsteller sind grosse Schauspieler im isländischen Theater. Wie haben sie sich vorbereitet?

Sigurður Sigurjónsson und Theodór Júlíusson leben in der Stadt und spielen Theater. Das bedeutet, dass sie viel Erfahrung mitbringen, wie man Dialoge spielt. Aber Sigurjónsson hat auf einem Bauernhof gearbeitet als Teenager. Wir haben auch mit den dortigen Bauern gemeinsam geprobt. Das einzige Problem für uns war: Sie sahen nicht wie Brüder aus. Deshalb die Bärte. 

Auch das hat sicher seine Zeit gebraucht.

Jetzt sehen sie miteinander verwachsen aus. Sie sind wie zwei Bäume auf dem Hof stehen geblieben.

Sie leben in einem Land, von dem man sagt, jeder zweite Einwohner sei ein Poet.

Isländer wissen aber zum Beispiel auch, wie man einen Schneesturm überlebt. Zum Beispiel erzählt man sich folgende Geschichte: Zwei Kerle fanden eine halb erfrorene Frau –  fast tot. Sie haben sich nackt ausgezogen und sie im Schnee so lange gewärmt, bis sie transportfähig war. Sie hat überlebt.

Daran erinnert das letzte Bild Ihres Filmes. Stand es von Anfang an fest?

Ich habe das Ende lange verworfen und umgestellt. Jetzt ist der Schluss offen. Man könnte sagen, er ist das «Paradise Lost» der beiden Brüder. Dort treffen sie sich wieder.

_
Der Film läuft in Basel in den Kult-Kinos.

Nächster Artikel