Grossdemo auf der Autobahn

Mit einer neuen Regelung der Krankenversicherung würden die Prämienkosten für elsässische Grenzgänger markant ansteigen. Bei einer Grossdemo am Samstag auf der Autobahn in St-Louis protestierten über 10’000 Männer und Frauen gegen das neue Gesetz.

Der Unmut unter den Grenzgängern ist gross. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Mit einer neuen Regelung der Krankenversicherung würden die Prämienkosten für elsässische Grenzgänger markant ansteigen. Bei einer Grossdemo auf der Autobahn in St-Louis protestierten über 10’000 Männer und Frauen gegen das neue Gesetz.

Es ist Mittag, die Autobahnstrasse A35 ist bereits abgesperrt. Fussgänger begeben sich in Gruppen zum Versammlungsort der Demonstration, einer ehemaligen Kiesgrube. Die Stimmung ist fröhlich, manche Familien gönnen sich beim Warten ein kleines Picknick.

Dabei haben die sich ausgelassen unterhaltenden Männer und Frauen allen Grund zur Sorge: Elsässische Grenzgänger sollen ihre Krankenkasse künftig nicht mehr selbst wählen dürfen, sondern müssen sich ab Juni zwingend bei der staatlichen Krankenkasse anmelden. Diese ist auch für die im Inland arbeitenden Franzosen obligatorisch – allerdings müssen sie nur 0,75 Prozent ihres Gesamteinkommens für die Prämie bezahlen, während der Rest vom Arbeitgeber übernommen wird. Die Grenzgänger hingegen müssten ab Juni die vollen 8 Prozent des Gesamteinkommens für die Prämie selbst bezahlen. Dies sind bei einem Einkommen von 4’500 Franken (der Durchschnittswert der Löhne von Grenzgängern) 289 Euros monatlich.

Grenzgänger würden doppelt oder dreimal so viel zahlen

Die Grenzgängerverbände wehren sich nun vehement gegen die neue Regelung. Im November richtete sich der Grenzgängerverband Comité de Défense des Travailleurs Frontaliers (CDTF) in einem Schreiben an die Gesundheitsministerin Marisol Touraine. Darin wurde unter anderem beklagt, dass die Krankenkassenprämie durch die Neuerung für viele der insgesamt 169’000 französischen Grenzgänger doppelt oder dreifach so hoch würde – sogar die private schweizerische Krankenkasse LAMal sei günstiger als die staatliche französische. Zudem hätten die meisten Familien noch eine Zusatzversicherung, da die staatliche Krankenkasse nur 70 Prozent der Kosten abdecke.

Die Vertreter von drei grossen französischen Grenzgängerverbänden wurden von der Gesundheitsministerin Touraine angehört. Trotzdem hielt sie an den zentralen Punkten der neuen Regelung fest. So hat der Grenzgängerverband CDTF zur Demonstration mobilisiert. Auf der Internetseite des Verbands haben sich über 11’000 Teilnehmer angemeldet.

Tatsächlich erscheinen die Leute sehr zahlreich an diesem bewölkten, aber trockenen Samstagnachmittag. Der Grenzgängerverband legt Wert auf einen reibungslosen Ablauf der Protestaktion. Nebst vereinzelten Polizisten und den Mitarbeitern einer privaten Sicherheitsfirma stellte der CDTF eigene Freiwillige in roten Westen als Sicherheitsleute zur Verfügung.

Eine Demo wie ein Sportevent

Im Vorfeld wurde den Teilnehmern nahegelegt, keine selbst gebastelten Banner zum Umzug mitzubringen. Accessoires des CDTF würden zur Verfügung gestellt und «reichlich verteilt». Der CDTF hielt sein Wort – die versammelten Leute sind mit Fähnchen und Papiertröten gut versorgt. Die Uniformität der Menschenmasse durch diese Accessoires, sowie durch die neonfarbigen Autobahnwesten verleiht der Zusammenkunft den Charakter eines Sportevents. Die 12 extra für die Demonstration aufgebauten Klohäuser unterstreichen diesen Eindruck.

Während der Präsident des CDTF Jean-Luc Johaneck die Menschenmasse mit dem Megafon begrüsst und den Ablauf und die Motivation der Demonstration erklärt, füllt sich das Gelände immer mehr – Betroffene, Solidarische, Familienmitglieder. Im wahrsten Sinne des Wortes bewegt diese Angelegenheit das Volk.

Ein älteres Ehepaar etwa kann die «Dreistigkeit» der Regierung kaum fassen. Seit über dreissig Jahren sei der Ehemann nun in der Chemiebranche in Basel tätig. Er sagt: «In Paris haben sie gemerkt, dass sie kein Geld mehr haben, jetzt wollen sie es von uns nehmen.» Dabei geht diese Rechnung nicht wirklich auf – die Securité Sociale steckt in einem tiefen Loch. Sie macht einen signifikanten Teil der französischen Staatsschulden aus und hat Defizite von mehreren Milliarden Euros. Die paar Tausend Euro jährlich fallen da wohl nicht gross ins Gewicht. Oder, wie der Mann, der anonym bleiben will, es ausdrückt: «Da könnten wir Grenzgänger so viel zahlen wie wir wollen – die Staatskasse ist ein Fass ohne Boden.»

Das Streben nach der Aufmerksamkeit von Paris

Ob der TF1 von der Demo berichten wird? Ob die Protestaktion in Paris wohl bereits Gesprächsthema ist? Diese Fragen scheinen die Leute zu beschäftigen. Es ist nichts Neues, und trotzdem aktuell – die Menschen im Elsass fühlen sich vernachlässigt im zentralistisch regierten Frankreich. Dieser Groll kocht immer dann hoch, wenn eine politische Entscheidung zum Nachteil der Bevölkerung im Rheintal gefällt wird. «In Paris gibt es Regierungsbeamte, die keine einzige Fremdsprache sprechen. Wie sollen die denn bitte Verständnis aufbringen für das Leben im Dreiländereck?», lauten etwa die harten Worte einer jungen Frau. Ihr Begleiter hat wenig Hoffnung darauf, dass die Demo irgendetwas bewirkt. Trotzdem sei es sinnvoll denen «da oben» manchmal zu zeigen, dass man mit den Elsässern «nicht alles machen» könne.

Auch den CDTF-Präsidenten Johaneck lässt die Resonnanz in Paris natürlich nicht kalt. Als der Menschenzug sich in Bewegung setzt und auf der Autobahn in Richtung EuroAirport marschiert, kommentiert er mit gut einem Dutzend Kameraleuten im Rücken das Geschehen von der Autobahnbrücke aus. Das Ziel der Demonstration sei kein geringeres, als «die Stabilität der Wirtschaft im Elsass ein für alle mal zu gewährleisten».

Kurz vor der Brücke fordert er die Leute dazu auf, für ein Foto «kurz» anzuhalten. Nun werden die Demonstranten von oben so zurechtgerückt, dass alle Schriftzüge auf den Bannern leserlich sind, und auch jedes noch so kleine Stück Boden abgedeckt ist. «Bewegt euch, ich will, dass alle mitmachen. Ich will keinen Boden sehen. Das ist das Bild, dass ich in Paris zeigen will.»

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