Hamburg und die Grenzen des Zumutbaren

Die Zerstörungswut gewaltbereiter Chaoten im Schanzenviertel ist nicht zu entschuldigen. Aber sie war vorherzusehen. Warum bloss haben sich deutsche Sicherheitskräfte bei ihrer Vorbereitung auf friedliche Organisationen und die Ausserkraftsetzung verfassungsmässiger Bürgerrechte konzentriert? 

Der Zivilist und die Staatsgewalt: Was rechtfertigt die Ausserkraftsetzung von Bürgerrechten? (Bild: Reuters)

In diesem Text geht es nicht um die inzwischen im deutschen Sprachraum überbordende Deklamationsspirale zu den Schlagworten «Gewalt» oder «linke Gewalt». Es geht auch nicht um den Dauertalker Wolfgang Bosbach. Es geht – durchaus die Thematik einengend – um das, was im Zusammenhang mit einer Konferenz wie derjenigen der G20-Staaten in Hamburg Anfang Juli an «Sicherheit» für Konferenzteilnehmer rechtsstaatlich vertretbar ist.
Am 14. Juli hat die TagesWoche einen Text von Georg Kreis zum Hamburger G20-Gipfel ins Netz gestellt. Kreis erläutert darin unter anderem die «Nachbearbeitung» der «Ereignisse» in der deutschsprachigen Medienwelt und weist auf gravierende Lücken in den Nachbearbeitungs-Sendungen etwa bei ARD und ZDF oder bei Gastkommentaren in der BaZ hin. Den hier vorgelegten Text kann man als Ergänzung mit gewissen Detailbetrachtungen zum Text von Georg Kreis verstehen.

1.

Nach dem G20-Gipfel in Hamburg stellt sich unter anderem einmal mehr die Frage, wie viel Einschränkung zulässig respektive der Bevölkerung einer Grossstadt zumutbar ist, um eine Konferenz zu «sichern».

Die G7- respektive G8- und die G20-Gipfel sind unter anderem auch wiederkehrende Höhepunkte der Sicherheitsinszenierung der sogenannten Sicherheitskräfte jener Länder respektive jener Regierungsleute, die diese Gipfel organisieren oder an ihnen teilnehmen. Man hat sich seit Jahren daran gewöhnt, dass «Sicherheit» vor allem anderen kommt.

Also rüsten die Sicherheitskräfte gegen allfällige Störungen der Sicherheit zeitlich weit im Vorfeld dieser Konferenzen auf: Von Strassensperrungen über Bewegungsvorschriften für Bewohner der Stadtquartiere im Umkreis der Konferenzgebäude bis hin zu massivem Missbrauch der Vorratsdatenspeicherung, die je nach Land, wo solcherlei stattfindet (2016 beispielsweise in China), auch dazu missbraucht werden, dass Tausende Menschen vorübergehend aus ihrer Stadt vertrieben werden, damit sie nicht «stören» können. Ob solcherlei diesmal in Deutschland am Rande eine Rolle gespielt hat?

Die Frage ist berechtigt: Bekanntlich wurde während des G20-Gipfels 32 akkreditierten Journalisten die Akkreditierung wieder entzogen – durch das Bundeskriminalamt (BKA) als dem Exekutivorgan des deutschen Innenministeriums. Die betroffenen Redaktionen (zum Beispiel «Der Spiegel») haben vermutet, dass es sich dabei unter anderem um deutsche Regierungswillfährigkeit gegenüber türkischen Anmassungen gehandelt hat.

Diese Vermutung hat Bundesinnenminister de Maizière (CDU) sofort dementiert: Für den Entzug der Akkreditierungen habe das BKA «ausschliesslich auf Erkenntnisse deutscher Sicherheitsbehörden zurückgegriffen». Den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sagte er: «Alleiniger Grund für die Entscheidungen war es, die Sicherheit des Gipfels und seiner Teilnehmer zu gewährleisten.» Die Entscheidung des BKA sei «nicht ohne Sorgfalt und Beachtung der wichtigen Pressefreiheit» getroffen worden, zitiert «Spiegel online» den Minister.

Was fehlt, ist ein wirklich aufklärendes Wort über den Inhalt der angeführten Verdächtigungen gegen Journalisten.

Das heisst in der Lesart, die de Maizière als nichts weniger denn verbindlich erklärt, dass das BKA namentlich bekannte, bereits akkreditierte Journalisten mindestens der beabsichtigten Störung des Konferenzablaufs verdächtigt hat.

Man ist inzwischen in Fragen der Überwachung «aus Sicherheitsgründen» gewohnt festzuhalten: Natürlich fehlt ein wirklich aufklärendes Wort über den Inhalt solcher Verdächtigungen. Es habe sich um «vorbestrafte» Journalisten gehandelt, ist inzwischen aus dem Bundesinnenministerium zu vernehmen. Was immer das auch heissen mag – irgendwelche Vorstrafen spielten jedenfalls anlässlich der ursprünglich gewährten Akkreditierung keine Rolle. Waren es «deutsche» Vorstrafen? US-amerikanische? Russische? Türkische?

Das BKA soll polizeilich «handeln» und muss seinen Entscheid nicht begründen. Es sei dabei, behauptet de Maizière, um die Sicherheit der Gipfelteilnehmer gegangen.

«Gefährliche» Journalisten stellen gute Fragen

Da es sich um Massnahmen gegen Journalisten und deren Bewegungsfreiheit handelt, stellt sich die Frage, wie diese Personengruppe die Sicherheit des Gipfels potenziell hätte stören können. Das kann man sich gut vorstellen: Journalisten könnten in der Öffentlichkeit einer Pressekonferenz an gewisse Staats- oder Regierungschefs Fragen richten, die diese nicht gestellt haben wollen.

Fragen also, welche diese Staats- und Regierungschefs nicht in ihren nationalen TV-Sendern hören wollen, weil sie nicht wollen, dass die Menschen in ihren Ländern auch nur hören, was man sie bezüglich der Zustände in ihren Ländern fragen könnte. Etwa über verhaftete Journalisten. Also sorgt man dafür, dass solch potenziellen Fragesteller gar nicht an Medienkonferenzen anwesend sind. Das wird als «Sicherheit» von Konferenzteilnehmern deklariert und soll ansonsten nicht weiter diskutiert werden.

Etwas anderes als solcherlei ist, da es sich um die Rücknahme von Akkreditierungen handelt, kaum vorstellbar.

Es ist auch denkbar, dass ein Journalist die versammelte «Weltöffentlichkeit» über Staatsverbrechen in gewissen G20-Ländern informieren will. Das wäre ein Gau.

Naheliegend ist: Interventionen von Geheimdiensten oder sogenannten Staatsschutzbehörden der Türkei, der USA, Russlands und anderer als Verächter der Unabhängigkeit der Medien bekannten Regierungen dürften wahrscheinlich den Grund für die Massnahme abgegeben haben. Das bedeutet dann: Das BKA und de Maizière haben die verfassungsgeschützten Rechte von 32 Journalisten gezielt verletzt.

Es ist auch denkbar, dass ein Journalist während einer Medienkonferenz aufsteht und die versammelte «Weltöffentlichkeit» über Staatsverbrechen in gewissen G20-Ländern informieren will. Das wäre dann ein Gau für die gesamte Beschwichtigungs-Veranstaltung namens G20-Konferenz. Denn es wäre – woran es allen Medienauftritten von Kanzlerin, Präsidenten und Staatschefs eklatant mangelte – etwas Konkretes.

Dieses scheinbar unwichtige – unwichtig, weil de Maizière und das BKA das behaupten – Beispiel aus dem «Sicherheitsdispositiv» des Hamburger G20-Gipfels zeigt: Die Betonung des Begriffs «Sicherheit der Konferenzteilnehmer» ist so etwas wie das polizeiliche Mantra, unter dem die Taktik von Polizeieinsätzen immer wieder steht, sobald es um Staatsbesuche, um die Absicherung von Konferenzen, um irgendwelche Gipfel geht.

Im Vorfeld verhindern, was zu verhindern ist. Zu erwartende Demonstrationen ja nicht in die Nähe der Konferenzgebäude lassen. Auch wenn Gerichte in Westeuropa die Demonstrationsrechte der Bürgerinnen und Bürger meistens schützen, handeln die Polizeiführungen ziemlich unisono und ziemlich überall nicht nach dem Prinzip des Zulassens (einer Demonstration zum Beispiel), sondern nach dem Prinzip der Fernhaltung, des Verbots. Man will als Polizei keine demonstrierenden Bürger.

Mit Begriffen wie Sicherheit oder Antiterror geschieht der Abbau der Rechtssicherheit schleichend.

Es ist verständlich, dass Behörden, welche die körperliche Unversehrtheit von Konferenzteilnehmern, namentlich von Politikerinnen und Politikern zu gewährleisten haben, ihre Aufgabe unzimperlich erledigen. Die Aufgabe eines Innenministers – in Deutschland ist dieser auch der «Verfassungsminister» – ist es aber auch, die Verfassung zu schützen. Er muss also die Einsatzdoktrin der Polizei auf ihre Rechtsstaatlichkeit überprüfen. Er muss darauf schauen, dass keine durch die Verfassung geschützten Rechte von Bürgerinnen und Bürgern einfach mal so, etwa auf eine bestimmte Konferenzdauer hin, aufgehoben werden.

Ja, ein Innenminister sitzt während einer Riesenkonferenz wie dem G20-Gipfel immer unbequem.

Ja, Sicherheitsgarantien abzugeben und zu gewährleisten ist – gerade in Zeiten des immer wieder vorgeführten Terrorismus von Individualtätern – mit zahlreichen Schwierigkeiten verknüpft.

Es ist kein Wunder, dass diesbezüglich immer wieder grenzwertige Entscheidungen getroffen werden. Bürgerrechte, wie die Gleichheit vor dem Gesetz, werden heute kaum mehr offen durch Staatsmacht ausser Kraft gesetzt. Mit Begriffen wie Sicherheit oder Antiterror, aber auch mit staatlicher und privatwirtschaftlicher Datenspeicherung – die längst jegliche persönliche Kontrolle der individuellen Daten, die eine Person betreffen, unmöglich macht – geschieht der Abbau der Rechtssicherheit schleichend. Warnungen gelten in Sicherheitskreisen als lästig, sie gelten als «kontraproduktiv», als «gefährlich» für Ruhe und Ordnung und eben die Sicherheit.

Allerdings sind diesbezüglich die Überwachungs- und die Beeinflussungstechnologie keineswegs der Grund für die Gefährdung der Bürgerrechte durch staatliche Organe – seien das nun Polizeistrukturen oder geheimdienstliche Datensammlungen. Die Wahrnehmung von verfassungsgeschützten Rechten ist in meinem über 70-jährigen Leben immer von polizeilichem Misstrauen begleitet worden. Auch ohne Elektronik funktionierte jegliche Art von Überwachung. Erinnert sei an die Schweizer Fichen-Geschichte.

Ruhe und Ordnung sowie die Abgabe einer Sicherheitsgarantie bedeuten nach wie vor: Man, also das Individuum, die Bürgerin, der Bürger, hat aus der Sicht der polizeilichen Ordnungsorganisation bei Konflikten idealerweise zu schweigen. Man hat Massnahmen ohne Nachfragen hinzunehmen. Man hat sich polizeilichen Bedürfnissen, also auch Verletzungen von Bürgerrechten, im Notfall unterzuordnen.

2.

Man sollte diesen Aspekt der Polizeidoktrin, der offensichtlich in Hamburg eine wesentliche Rolle gespielt hat, diese sehr stur inszenierte Zurückbindungsabsicht gegenüber Demonstranten, nicht unterschätzen.

Es ist im Vorfeld des G20-Gipfels offensichtlich geworden, dass die Polizeitaktik vornehmlich auf das Zurückbinden, womöglich das Verhindern, von Demonstrationszügen angelegt war. Das hat während der Konferenz logischerweise Tausende der 20’000 eingesetzten Polizisten gebunden. Man, diesmal die Polizei, musste ja laut eigener Doktrin davon ausgehen, dass Demonstrationen eskalieren könnten. Also brauchte man ein Heer von «Eskalationsverhinderern». Konkret wurden diese martialisch eingekleideten und ausgerüsteten «Truppen» bei den grossen Demonstrationen gar nicht gebraucht, weil es dort keine Gewaltausbrüche gab. Dafür gesorgt haben unter anderem auch die Organisatoren der Demonstrationen.

Personenschutz beim Fototermin

Dafür wurden für die Inszenierung der Gruppenfotos mit Damen und Kanzlergatte vor der Elbphilharmonie Hunderte von Polizisten gebunden, die dann nicht im Schanzenviertel waren, als sie hätten dort sein sollen. Was ein Gruppenfoto mit Damen und Kanzlergatte mit der G20-Konferenz zu tun hat?

Inhaltlich: nichts. Atmosphärisch ebenfalls nichts, weil die Künstlichkeit der aufgenommenen Szene nahe am Kitsch und offensichtlich war.

Es stellt sich heraus: Die Hamburger Polizeidoktrin war die Folge einer von Vorurteilen gegenüber G20-kritischen Bürgerinnen und Bürgern geprägten Sicht. Dazu kam eine ausserhalb von Polizei- und offensichtlich auch Politikerkreisen kaum nachvollziehbare Fehleinschätzung des Demonstrierens. Letztere führte auch dazu, dass die Hamburger Polizei Attac, Greenpeace und andere NGOs vorurteilsbeladen als «feindlich» gegenüber ihrer Polizeiaufgabe ansah.

Es ist bezeichnend, dass es in Hamburg am ersten Juliwochenende unter anderem eine Demonstration mit über 70’000 Teilnehmenden gab, die ohne irgendeinen Gewaltausbruch stundenlang dauerte. Bezeichnend deshalb, weil der Begriff Friedfertigkeit ungenau, aber atmosphärisch stimmig, eine erklärende Beschreibung für das Engagement als auch für das Selbstverständnis kritischer Bürgerinnen und Bürger abgibt. Kritisch in Bezug auf Trumps Leugnung des Klimawandels, kritisch bezogen auf Merkels Verhältnis zur deutschen Autoindustrie, die mit gewaltigem Betrug die EU-Abgasbestimmungen jahrelang bewusst unterlaufen und damit Krankheit und Zerfall produziert hat.

Eine solche Fehleinschätzung wäre beispielsweise der Berliner Polizeidirektion mit Sicherheit nicht passiert. Dort versteht sich die Polizei auch als Garantin des Demonstrationsrechts. Und wenn es einmal «aus dem Ruder läuft», wird polizeiintern systematisch nachgearbeitet.

Die Hamburger Polizei hätte – anstatt in ihrer Freizeit weit draussen auf dem Land «kasernierte», Geburtstag feiernde Berliner Einsatzkräfte wegen «ungebührlichen Verhaltens» mit moralisierendem Pathos nach Hause zu schicken – intelligenterweise den reichen Erfahrungsschatz der Berliner Polizei im Umgang mit Demonstrationen abgefragt. Gerade dieser Zwischenfall beleuchtet das triefend Provinzielle, das hinter der G20-Sicherheitsdisposition in Hamburg sein Unwesen trieb.

3.

Was den Schwarzen Block betrifft: Die Polizei einer Grossstadt wie Hamburg weiss selbstredend, dass es so etwas gibt. Sie weiss, dass dieser Block durchaus europaweit organisiert ist. Sie kennt zahlreiche Personen, die diesem Block angehören. Sie weiss um deren Gewaltpotenzial genauso Bescheid wie über die Rücksichtslosigkeit, mit der zielgerichtet Zerstörungen von Privatbesitz (Autos, Velos, Kinderwagen…) und systematisch betriebener Ladendiebstahl als «Vorzeige-Taten» inszeniert werden.

Dass dieser Schwarze Block mit tausend, vielleicht eineinhalbtausend Gewaltbereiten im Hamburger Schanzenviertel auftreten würde – also in einer grossen Masse angesichts der örtlichen Raumverhältnisse –, war bekannt.

Anstatt die lokale Situation systematisch zu überprüfen und rechtzeitig zu neutralisieren, hat sich die Hamburger Polizei auf zahlreiche juristische Techtelmechtel mit Attac, mit Greenpeace, mit der Partei die Linke und so weiter eingelassen, um deren Protestversammlungen zu verhindern oder so weit aus der Innenstadt zu verbannen, dass es keinen «Verkehr» zwischen den Gipfelteilnehmern und Protestbereiten mehr hätte geben können.

Bloss: Die Polizei hat vor Gericht ein ums andere Mal nicht Recht bekommen.

Im Schanzenviertel aber hat sie nichts vorbereitet. In einem Interview, das «Spiegel online» mit dem Leiter eines Sondereinsatzkommandos (SEK) führte, wird dieses unverständliche Nichtstun der Hamburger Polizei gegenüber dem Schwarzen Block im Zeitraum vor Konferenzbeginn blossgestellt. Die SEK-Einheit musste notfallmässig eingesetzt werden, weil die gegen die Gewalteskalation im Viertel viel zu spät anrückende Polizei von Dächern herab mit Steinen beworfen worden war und eingekesselt wurde.

«Frage: Was für eine Situation haben Sie angetroffen, und wie waren Sie darauf vorbereitet?

Mewes: Die Ausgangslage war die, dass wir damit rechnen mussten, auch auf mit Schusswaffen bewaffnete Straftäter zu treffen. Dementsprechend war unser Vorgehen extrem robust auf Eigensicherung, aber auch auf hohe Dynamik ausgelegt. Das heisst, der Schusswaffengebrauch war für uns freigegeben, wir haben Ablenkungspyrotechnik in den Gebäuden eingesetzt und geschlossene Türen mittels Schusswaffen mit spezieller Munition geöffnet. Alle, die wir angetroffen haben, haben wir sofort auf den Boden gelegt, gefesselt und anschliessend abführen lassen.

Frage: Sind Sie auf Widerstand gestossen?

Mewes: Es hat überhaupt keine Gegenwehr gegeben. Wir haben in den ersten beiden Gebäuden auf dem Dach Straftäter stellen können, die sich, als sie uns sahen, sofort ergeben haben. Insgesamt haben wir sechs oder sieben Häuser durchsucht. Es gab nach meiner Erinnerung 13 Festnahmen.» (Quelle: Spiegel online)

Die Rolle der Medien

Warum die Polizei diese von Mewes genannten sechs oder sieben Häuser nicht vor dem Eskalationsbeginn zumindest oberflächlich überprüft hat, ist ihr Geheimnis. Dass es sich wahrscheinlich um eine völlig ungenügende polizeiinterne Vorbereitung auf die Aktionen von Gewaltbereiten handelt, ist nach Kenntnisstand gut eine Woche nach dem Desaster wahrscheinlich.

Im Nachhinein wird nun in den Medienkommentaren, vor allem in zahlreichen «Diskussionen» über «Gewalt in Hamburg» so getan, als sei die Gefahr unterschätzt worden, die von «links» komme, eine Gewaltgefahr, der man nun aber sofort mit entsprechender Härte begegnen müsse. Georg Kreis hat diese Diskussionen in seinem Text analysiert.

Zu den – journalistischen – Bedenken über die Auftritte des Schwarzen Blocks gehört auch: Der Schwarze Block und dessen Brandschatzideologie waren vor allem für die TV-Medien viel attraktiver als die friedlichen Demonstrationen. Sie versprachen Einschaltquoten, die man ansonsten in dieser Jahreszeit kaum erreichen kann. Es ist mir bewusst, dass dieser Satz eine ziemliche Boshaftigkeit gegenüber der Einrichtung Fernsehen an sich vermittelt.

Das Fernsehen liefert Bilderorgien und reduziert die Berichterstattung über die Gegnerschaften zum G20-Gipfel auf den Schwarzen Block

Die immer gleichen Bilder von «Gewalt» werden in ständiger Wiederholung ausgestrahlt – und von TV-Nachrichten-Frontleuten immer auch noch sprachlich eingeengt respektive fast zwanghaft «interpretiert» mit dem Satz «was die Bilder uns sagen». Angesichts dessen ist der Hinweis auf das Lächerliche dieser Inszenierung von Bildern als «Nachricht» meiner Ansicht nach gut begründet: Seit Jahrzehnten hat diese Gewaltbilder-Distribution zahlreicher TV-Anstalten nie auch nur ansatzweise eine soziale, eine politische, eine rechtsstaatliche Problematik erfasst. Die Bilder hatten nie einen wirklichen Nachrichteninhalt.

Das Fernsehen liefert Bilderorgien – anders kann man eine gewisse Art der Berichterstattung von immerhin öffentlich-rechtlichen TV-Sendern aus Hamburg nicht nennen – und reduziert die Berichterstattung über die Gegnerschaften zum G20-Gipfel einzig auf den Schwarzen Block. Das weist darauf hin, dass die Rolle der TV-Redaktionen samt jener der Talk-Runden beim Desaster der Hamburger Sicherheitsdoktrin keine Nebensache ist.

Vielmehr bestimmen diese Bilderorgie und die verkrampften Zeigefingerattacken auf angeblich «linke Gewalt» des Schwarzen Blocks bis jetzt die Aufarbeitung. Und sie verhindert polizeiintern und TV-redaktionsintern jegliche selbstkritische Reflexion. Entwicklung von Selbstkritik aber ist nach einem derart eindeutig feststellbaren Desaster einer gewählten Polizeitaktik nicht bloss eine, sondern die Voraussetzung für das Lernen aus Fehlern.

4.

In Hamburg wurden grosse Teile der Stadtgesellschaft durch polizeiliche Massnahmen, die weder der Sicherheit der Bevölkerung noch jener von Konferenzteilnehmern dienten, während mehreren Wochen in ihrem alltäglichen Leben fortgesetzt gestört. Massnahmen, die nur dazu dienten, eine Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Demonstrationen – die angesichts der Problematiken, die auf dem Gipfel besprochen werden sollten, verständlich sind – zu verhindern.

Es stellt sich die Frage nach der Verhältnismässigkeit. Und es stellt sich die Frage nach der Grenze dessen, was einer Stadtgesellschaft zumutbar ist im Interesse von Trumps, Putins, Erdogans Sicherheit oder derjenigen irgendeiner saudischen Prinzenabordnung.

Merkel wollte den G20-Gipfel in Hamburg. Hamburg ist, viele wissen es nicht, der Geburtsort der Kanzlerin. Und sie wollte die Bilder von sich im Zentrum der Stadt, inmitten der Staatschefs, tagelang, weil schon Ende September die Bundestagswahl stattfindet. Gratiswerbung vom Feinsten sollte das werden.

Und nun, nach dem Desaster mit dem Schwarzen Block? Nun ist natürlich der Bürgermeister Olaf Scholz – ein Sozi! – verantwortlich. Nein, nicht der Innenminister, CDU, der so nebenbei befiehlt, akkreditierten Journalisten aus «Sicherheitsgründen» die Akkreditierung zu entziehen. Der wohl auch noch manch anderen Wegweisungs- und Überwachungsbefehl erteilt hat.

Klar und eindeutig:

Verantwortlich für das Desaster sind Merkel, de Maizière, Scholz und so weiter. Verantwortlich ist die Polizeiführung in Hamburg, aber auch das Bundeskriminalamt.

Es ist an der Zeit, dass endlich über die konkrete Verantwortlichkeit gesprochen wird. Und zwar in den zuständigen Gremien, in den Parlamentsausschüssen, in den Regierungen.

Und, ja: In Hamburg wurde wegen der G20-Konferenz die Grenze des den Stadtbewohnern Zumutbaren leichtfertig überschritten. Das muss ernsthaft diskutiert werden.

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