Vor 15 Jahren lockte Amélie Poulain Massen in die Kinosäle. Noch heute blicken wir auf eine moderne Märchenprinzessin zurück.
Paris! Stadt der grölenden Fussballfans! Stadt der Hochsicherheitsabsperrungen! Moment mal. Was ist denn aus der Stadt der Liebe geworden? Was mit den endlosen Spaziergängen durch verwinkelte Gassen und dem Glas Rotwein an der Seine bei Sonnenuntergang? Wo ist all die französische Romantik in Zeiten des Sports und des Terrors geblieben?
Zum Glück gibt es für Fussballmuffel die Möglichkeit des Rückzugs – in die fabelhafte Welt der Amélie Poulain. Vor 15 Jahren erschien der Kultfilm des französischen Regisseurs Jean-Pierre Jeunet, in dem er das idyllische Paris aus der Sicht einer verträumten Aussenseiterin zeigt.
Eine Weltverbesserin entsteht
Geprägt durch den frühen Tod ihrer Mutter und einen darob gefühlskalt gewordenen Vater, entwickelt sich Amélie zu einer kauzigen und zurückgezogenen Frau, die sich als Kellnerin ihren Lebensunterhalt verdient. Durch einen Zufall entdeckt sie eine von einem kleinen Jungen in den 1950er-Jahren versteckte Kiste mit persönlichen Schätzen. Mit dem Beschluss, den inzwischen erwachsenen Besitzer der Kiste aufzusuchen, um ihm diese zurückzugeben, beginnt ihr bescheidenes, aber aufregendes Abenteuer.
Amélie, deren Name wohl nicht zufällig vom französischen Wort «améliorer» (verbessern) abgeleitet werden kann, entdeckt im Weltverbessern ihre Lebensaufgabe und beginnt allerlei gute Taten zu verrichten. Zur Belohnung findet Amélie dann ihren eigenen Traumprinzen, der als Sammler von zerrissenen Passfotos eine ebenso eigenartige Persönlichkeit aufweist wie sie selbst.
Top oder flop?
Gepaart wird die Grossstadtromantik mit skurrilen Details, etwa einem unter Depression leidenden Goldfisch oder einer sprechenden Lampe. Wunderbar absurd, wunderbar passend. Denn Amélie lebt in ihrem eigenen Kosmos.
Und dieser Kosmos erzielte eine Sogwirkung, mit der die Massen in die Kinos gelockt wurden. Alleine in Frankreich tauchten 5,5 Millionen in die fabelhafte Welt der Amélie ein – und das, obwohl der Film an den grossen Filmfestivals keine Preise einsackte und in Cannes nicht einmal gezeigt wurde.
Die kleine Amélie lebt in ihrer eigenen Welt und begegnet allerlei skurrilen Figuren.
«Dieses Mädchen wird Ihr Leben verändern», warb ein Slogan für den Film. Aber wieso eigentlich? Auf den ersten Blick wirkt Amélie uncool, isoliert und einzelgängerisch. Überhaupt haben alle Figuren eine Macke. Und dann wird auch noch die banale Botschaft vermittelt, dass Gutes tun zu einer persönlichen Belohnung führt.
Nicht die Figur verändert sich im Laufe des Films – sondern unser eigener Blick auf sie: Ihre Sonderbarkeit macht sie unverwechselbar. Uncool wird cool, Aussenseitertum wird Individualität, eigenbrötlerisch wird kreativ. Amélie entwickelt sich von einer zurückgezogenen, grauen Maus zu einer altruistischen Märchenprinzessin. Man schliesst sie ins Herz.
Aufstieg der Märchenprinzessin
Heute fasziniert Amélie immer noch. Doch ist sie von einer Märchenprinzessin mit Bambi-Augen zu einer Hipster-Königin mit Stil aufgestiegen. Der schicke Kurzhaarschnitt, der süsse Schulmädchen-Pony, die Strickjacke und der Trenchcoat: alles Symbole für den Aufstieg des Uncoolen. Mit ihrem studentischen Retrocharme wurde Amélie zur Trendsetterin. Ganz im Yolo-Style träumt sich Amélie ihre Welt zurecht und macht dabei immer wieder klar: Wer das Leben nicht bewusst lebt, verpasst was.
So vereint Amélie Poulain bis heute Grossstadtromantik und Urhipstertum. Und bietet dieser Tage ganz nebenbei eine Alternative zu Marseillaise und Fussballtrubel: In der fabelhaften Welt der Amélie kann man sich Paris durch eine rosarote Brille anschauen – und das nicht nur mit einer Hornbrille vom Flohmarkt.