Die Beziehung zwischen Deutschschweiz und Romandie ist mal wieder belastet. Es geht um «Parmelingate» und die Frage der ersten Fremdsprache in der Schule. Aber nicht jeder Graben, der sich aufzutun scheint, ist eine Diskussion wert.
Derzeit gibt es gleich mehrere Gründe, einen Moment lang über unser Verhältnis zur französischen Schweiz nachzudenken: erstens die in der welschen Presse erhobenen Vorwürfe, die Deutschschweiz betreibe im Fall von Bundesrat Parmelins Fauxpas in der Baulandfrage eine Hexenjagd; zweitens ein jüngst veröffentlichtes Umfrageergebnis, wonach jeder vierte St. Galler oder Bündner noch nie in der Romandie gewesen ist.
Und drittens ist es immer gut, wenn man sich von Zeit zu Zeit wieder bewusst wird, dass sich die Schweiz aus kulturell unterschiedlichen Landesteilen zusammensetzt. Kulturell? Die Unterschiede gehen jedenfalls über die leichter feststellbaren Sprachunterschiede hinaus. An der Sprache entzünden sich oft Auseinandersetzungen, die eigentlich andere Ursachen haben.
Dass in der offiziell vierteiligen Schweiz die Binnenverhältnisse einmal mehr auch hier in der Variante Deutsch- versus französische Schweiz thematisiert werden, versteht sich aus der Tatsache, dass es da um die beiden grössten Landesteile geht. Darüber sollten wir aber nicht vergessen, dass sich die helvetische Pluralität nicht auf dieses eine Gegenüber beschränkt.
Mythos von der «lateinischen Schwesternschaft»
Es waren die Kurzmeldungen der Medien, die sich auf das Verhältnis zwischen den beiden grössten Landesteilen beschränkten. Die im Auftrag von Swisscom von der Forschungsstelle Sotomo bei über 14’000 Personen durchgeführte Umfrage («Vernetzte Schweiz 2016») war breiter angelegt. Ihr konnte man beispielsweise auch entnehmen, dass fast jeder zweite Romand noch nie im Tessin war. Die Vorstellung der «lateinischen Schwesternschaft» ist zum Teil ein Mythos. Die französische und italienische Schweiz leben in mancher Hinsicht «Rücken an Rücken».
Der Besuch des Schlosses Chillon oder – umgekehrt – ein Ausflug auf den Säntis machen noch keine Begegnung aus.
Jeder Landesteil betrachtet die Dinge von seiner Seite. Darum war und ist in der Deutschschweiz auch nur von den Ostschweizer Defiziten in den Kontakten mit der Westschweiz die Rede. Die gleiche Studie sagt aber auch, dass es von den Genfern jeden Fünften noch nie in die Deutschschweiz verschlagen habe. Der Besuch des Schlosses Chillon oder – umgekehrt – ein Ausflug auf den Säntis machen noch keine Begegnung aus.
Alles in allem stehen die Romands mit 15 Prozent ohne Reise in die Deutschschweiz sogar noch um einen Punkt schlechter da als die Deutschschweizer, von denen 14 Prozent noch nie in der französischen Schweiz waren. Es würde allerdings den Problemlagen nicht gerecht, wenn wir die Dinge einer symmetrischen Betrachtung unterwerfen würden. Wir müssen uns bewusst sein, dass es – mit verschiedenen Konsequenzen – Mehrheits- und Minderheitssituationen gibt.
Persönlich verbandelt, politisch weniger
Die vorliegende Studie hat sich auch interkantonale Paarbeziehungen angeschaut und dabei, wen erstaunt’s, festgestellt, dass die häufigsten Verbindungen dieser Art zwischen Personen aus Basel-Stadt und Basel-Landschaft vorkommen. Auf Rang zwei folgt die Kombination Neuenburg und Jura, auf Rang drei die Verbindung zwischen Genf und Waadt.
Dass diese Werte höher sind als bei anderen möglichen Paarungen, erklärt sich aus der direkten Nachbarschaft. Aber das sagt nichts aus über, ja steht sogar im Widerspruch zu den Gegebenheiten auf politischer Ebene, wo kollektive Abgrenzung hochgehalten wird. Um nicht von BS/BL zu reden: Eine Fusion der Kantone Genf und Waadt wurde 2002 auf beiden Seiten haushoch mit gegen 80 Prozent verworfen.
Wenn solche Erkenntnisse präsentiert werden, muss man sich zweierlei fragen: Warum sind die Abklärungen überhaupt in Auftrag gegeben worden? Und was machen wir mit den Resultaten? Swisscom wollte offenbar erfahren, in welcher Weise und in welchem Mass Schweizerinnen und Schweizer «vernetzt» sind. Im Fall von Swisscom ist verständlich, dass der technische und formale Aspekt der Vernetzung interessiert hat und nicht die Frage, warum es diese und jene Vernetzung gibt und um welche Inhalte es dabei geht. Der etwas einfache und alles andere als überraschende Befund lautet: Für die schweizerische Bevölkerung sind heute Internet und Mobiltelefonie wichtiger als das Auto.
«Rücken an Rücken» ist in Konfliktsituationen die falsche Strategie
Ein weiterer Befund: Gegenüber Immigranten besteht – weitgehend zu Recht – die entschiedene Erwartung, dass sie die Sprache ihres neuen Lebensraums erwerben. Wie aber, so darf man sich fragen, steht es mit den Sprachkompetenzen der eidgenössischen Alteingesessenen im «Lebensraum Schweiz»? Diese liegen weit hinter den staatsbürgerlichen Idealen. Das könnte allerdings auch seine gute Seite haben. Dem früheren Bundesrat Georges-André Chevallaz wird das Bonmot zugeschrieben, dass die Landesteile darum recht gut miteinander auskommen, weil sie sich gar nicht verstehen («Les Suisses s’entendent bien parce qu‘ ils ne se comprennent pas.»). Mithin Rücken an Rücken auch im Allgemeinen?
Das könnte auf die Länge nicht gut gehen und ist auch in Momenten nicht gut, da man eben doch miteinander reden muss – vor allem in Konfliktsituationen. Seit einiger Zeit tobt im Lande ein kleiner Sprachenstreit ob der Frage, wann wie viele Fremdsprachen in der Grundschule gelernt werden sollen. Aus Deutschschweizer Sicht geht es um Englisch und Französisch, wobei Letzteres eigentlich nicht als Fremdsprache, sondern als Landessprache bezeichnet werden sollte.
Erwägungen zum Sprachenstreit könnten ganze Bände füllen. Aus schulpädagogischer Sicht sprechen wohl gleich viele Gründe für die eine wie für die andere Lösung. Sollte in diesem Fall und in einer Zeit, da Politik so gerne «ein Zeichen» setzt und sich nicht weniger gerne auch patriotisch gibt, der symbolische Entscheid nicht zugunsten des mehrsprachigen Vaterlands ausfallen?
Statt einen konkreten Fall konkret zu beurteilen, lenkt man mit der Aktivierung von Stereotypen von der eigentlichen Sache ab.
Die Beziehungen zwischen der Deutsch- und der französischen Schweiz sind auch im Falle des «Parmelingate» zu einem Thema geworden. Die Kritik am Verhalten des ehemaligen Waadtländer Weinbauern und heutigen Bundesrats Guy Parmelin wurde von einem beachtlichen Teil der Romandie als eine perfide Aktion der Deutschschweiz gegen einen der ihren eingestuft.
Wie bekannt geworden war, hat Parmelin seine Funktion als Mitglied der Landesregierung genutzt, um in der Frage der Besteuerung landwirtschaftlicher Grundstücke einer Lösung zum Durchbruch zu verhelfen, von der auch seine Familie profitieren würde. Parmelin hätte nicht nur keinen ihn begünstigenden Mitbericht schreiben, sondern gänzlich in den Ausstand treten sollen.
Statt dies anzuerkennen (oder betreten einfach zu schweigen), reagierten Meinungsbildner der französischen Schweiz mit Empörung. Der Walliser Nationalrat Yannick Buttet tat den Fall leichthin als Neidreaktion ab. Gegenüber erfolgreichen Romands gebe es «eine gewisse Herablassung der Deutschschweizer». Und der Ex-CVP-Chef Christophe Darbellay, der im Weinkanton Wallis Regierungsrat werden will, bezeichnete die Publizistik des «Blicks» als «ekelhaft». Und «Le Matin» ordnete die Sache als «Intrige» ein, bevor er seinen Lesern die Fakten bekannt gab.
Diese Reaktionen folgen einem einfachen Muster: Statt einen konkreten Fall konkret zu beurteilen, schiebt man das Problem in den Bereich der Kollektivbeziehungen und lenkt mit der Aktivierung von Stereotypen von der eigentlichen Sache ab. So wird der Täter zum Opfer gemacht und an das primitive Zusammengehörigkeitsgefühl appelliert. Während Parmelin immerhin einen politischen Fehler, aber kein juristisches Fehlverhalten eingestanden hat, versuchten ihn seine Parteifreunde – Parteichef Rösti und Fraktionschef Amstutz, beides Deutschschweizer – verständlicherweise in Schutz zu nehmen. Bemerkenswert ist, dass der Verteidigungsreflex innerhalb der französischen Schweiz über die Parteigrenzen hinausging bis hin zum Grünen Luc Recordon.
Gleich mehrere Gräben trennen das «einzig Volk von Brüdern»
Der amerikanische Politologe Karl W. Deutsch reproduzierte vor vielen Jahren (1976) das typische Idealbild der Schweiz, wonach die Schweizer zwar verschiedene Sprachen sprächen, aber als ein Volk handelten: «The Swiss may speak four different languages and still act as one people.» Dieses Bild knüpft an Schillers Rütli-Szene vom «einzig Volk von Brüdern» an. In Wirklichkeit ist dieses Volk aber von Gräben durchzogen. Der Sprachengraben ist nur einer neben anderen: Heute gibt es auch den politisch stark ins Gewicht fallenden Stadt-Land-Graben und den neuerdings wahrgenommenen Graben zwischen überalterter Peripherie und wesentlich jüngeren Zentren.
Dass sich eine Gesellschaft aus verschiedenen sozialen Gruppen zusammensetzt, ist völlig natürlich und normal. Desgleichen, dass es entsprechende Interessenunterschiede gibt und diese in den gemeinsamen Prozess der politischen Lösungsfindung eingespeist werden. Dazu gehört auch die Pflege oder gar Verteidigung essenzieller Kultursubstanz der einzelnen Landesteile: Volksfeste, Bücher, Gastronomie und anderes mehr – nicht aber der wenig skrupulöse und undurchsichtige Umgang mit Baulandfragen und der Pflege von Privatinteressen.