Der neue serbische Regierungschef Aleksandar Vucic will sein Land in die EU führen. Dafür muss er die Wirtschaft reformieren und die Beziehung zum Kosovo neu regeln. Zuzutrauen ist ihm das, denn der einstige Ultranationalist zeigte sich in den letzten Jahren auffällig anpassungsfähig.
Die vorgezogenen Parlamentswahlen in Serbien am vergangenen Sonntag wurden zur Krönung des neuen starken Mannes in Belgrad: Aleksandar Vucic. Sein Sieg galt bereits im Vornherein als sicher, die Deutlichkeit überraschte dann aber doch: Mit einem doppelt so hohen Stimmenanteil wie 2012 konnten Vucic und seine Fortschrittspartei (SNS) eine mehr als komfortable absolute Mehrheit erreichen.
Vucic war in der bisherigen Koalition unter der Führung des Sozialisten Ivica Dacic Vizepremier, galt aber als Vorsitzender der stärksten Partei bereits vor den Wahlen als mächtigster Mann in Belgrad. Kritiker sehen in ihm einen zweifelhaften Charakter mit autoritären Tendenzen. In der Bevölkerung geniesst er jedoch grosse Popularität. Die wird er in der kommenden Legislaturperiode auch brauchen, denn das Land steht vor enormen Herausforderungen.
Mehr als die Hälfte der Jungen hat keinen Job
Im Januar dieses Jahres begannen die EU-Beitrittsverhandlungen. Das Ziel Belgrads ist es, bis 2020 der Union beizutreten. Von der Aufnahmefähigkeit ist das Land heute noch weit entfernt. Serbien befindet sich inmitten einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit liegt nach offiziellen Angaben bei 27 Prozent, unter Jugendlichen beträgt sie über 50 Prozent. Dazu kommt eine hohe Inflation (7,3 Prozent im Jahr 2013) und ein stark wachsendes Staatsdefizit mit aktuell 61 Prozent des BIP. Zum Vergleich: Im Januar 2009 lag es bei 29,2 Prozent. Zwar wuchs die Wirtschaft im letzten Jahr wieder um zwei Prozent. Bei einem BIP pro Kopf, das 43 Prozent des EU-Durchschnitts entspricht, ist dieses Wachstum aber sehr verhalten.
Die Probleme der serbischen Wirtschaft sind struktureller Natur. Noch heute, über 14 Jahre nach dem Sturz von Slobodan Milosevic, kämpft das Land mit den Spätfolgen der Kriege und der wirtschaftlichen Sanktionen seitens des Westens in den 1990er-Jahren.
Serbien leidet an einer überdimensionierten Bürokratie. Weite Teile der Industrie, an die 150 Betriebe, sind weiterhin in staatlichem Besitz und nicht in der Lage, eigenständig am freien Markt zu überleben. Dazu kommt eine schlechte Infrastruktur mit einem Schienen- und Strassennetz, das in den letzten 20 Jahren kaum modernisiert wurde. Das alles macht das Land zum Gegenteil eines unternehmerfreundlichen Ortes. Im Doing Business Index der Weltbank steht Serbien momentan zwischen Russland und Jamaica auf Platz 93, was dringend benötigte internationale Investoren abschreckt.
Am reichsten Serben wurde ein Exempel statuiert
Ausserdem gelten die Steuerbehörden als ineffizient und das Rechtssystem als schwach. Zusammen mit dem übergrossen staatlichen Sektor fördern diese Umstände zwei der Hauptprobleme des Landes: Schattenwirtschaft und Korruption. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegt Serbien momentan den 72. Platz.
Vucic selbst erklärte als Vizepremier in der bisherigen Koalition den Kampf gegen die Korruption zur Chefsache. Im Dezember 2012 liess er mit Miroslav Miskovic den Besitzer von «Delta Holding», einem der grössten privaten Unternehmen, einen der reichsten Männer Serbiens verhaften. Er statuierte damit ein Exempel, dessen Botschaft eindeutig war: Niemand wird verschont. Noch am Wahlabend am vergangenen Sonntag sagte Vucic, dass der Kampf gegen die Korruption auch im Mittelpunkt der nächsten Regierung stehen soll.
Vucic sagt der Korruption den Kampf an, doch diese Haltung nehmen ihm nicht alle ab.
Die unbeugsame Haltung gegen Korruption nehmen ihm jedoch nicht alle ab. Sasa Radulovic, der ehemalige Wirtschaftsminister, warf Vucic nach seinem Rücktritt vor, sich im Kampf gegen die Korruption durchaus von persönlichen und Parteiinteressen leiten zu lassen. Dazu gehören laut Radulovic auch dubiose Entscheidungen bei der Vergabe hoher Posten in staatlichen Betrieben.
Die EU-Tauglichkeit verlangt unpopuläre Massnahmen
Radulovic, ein anerkannter Ökonom, der vor seinem Regierungsamt als IT-Unternehmer in den USA erfolgreich war, beklagte allgemein, dass sich die kleptokratischen Zustände im Land in den letzten Jahren kaum verändert hätten – auch nicht unter Vucic als Vizepremier. Der Reformbedarf im Hinblick auf die strukturellen Probleme der Wirtschaft, die Festigung und Effizienz der Institutionen, allen voran des Rechtssystems und der Steuereintreibung, zählen genauso zu den Herausforderungen für die neue Regierung wie die Entwicklung der politischen Kultur.
Noch spricht sich die Mehrheit der Serben für eine EU-Mitgliedschaft aus. Letzten Umfragen zufolge sind 55 Prozent für einen Beitritt. Der Weg in die EU ist jedoch lang und bedarf vieler unpopulärer Entscheidungen. Speziell die Verkleinerung des Staatssektors in Form von Privatisierungen wird unweigerlich auf Widerstand stossen. Einen Vorgeschmack darauf gab es im Januar dieses Jahres mit ersten Protesten gegen eine Serie von neuen Gesetzen für den Arbeitsmarkt. Mittelfristig wird sich das auf die Haltung der Bevölkerung zu einem EU-Beitritt niederschlagen, wie auch das Beispiel der Beitrittsverhandlungen Kroatiens zeigte: Im Referendum Ende 2012 entschieden sich zwar über 66 Prozent für den Beitritt, allerdings nahmen nur 43,5 Prozent der wahlberechtigten Kroaten daran teil, vier Monate später bei den kroatischen Wahlen zum Europäischen Parlament waren es gar nur mehr 20,8 Prozent.
Koaliton trotz absoluter Mehrheit
Auch aus diesem Grund halten es Beobachter für möglich, dass Vucic, trotz seiner absoluten Mehrheit, weitere Parteien in sein Kabinett holt und eine möglichst breit abgestützte Mehrheit anstrebt. Dadurch könnte er sich einerseits die Stimmen für allfällige Verfassungsänderungen sichern und andererseits politische Konkurrenten für die anstehenden Herausforderungen mit in die Verantwortung nehmen. Der ehemalige Präsident Boris Tadic von der frisch gegründeten Neuen Demokratischen Partei (NDS) bot sich im Wahlkampf wiederholt für eine Regierungsposition an und wurde als möglicher Aussenminister gehandelt.
Auch sonst hat Vucic Optionen: Abgesehen von der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) des ehemaligen Premiers Vojislav Kostunica, ist eine proeuropäische Ausrichtung mit dem Ziel der schnellstmöglichen EU-Mitgliedschaft Konsens in der serbischen Parteienlandschaft.
Das Tabuthema Kosovo wird zur Schicksalfrage werden
Die zentrale Frage bei den Beitrittsverhandlungen wird aber jene der Beziehungen zu Kosovo bilden. Die ehemalige Provinz im Süden des Landes rief im Februar 2008 ihre Unabhängigkeit aus. Serbien hat diese Unabhängigkeit bis heute nicht anerkannt und erhebt weiterhin territorialen Anspruch auf das Gebiet. Im Frühjahr 2013 gab es zumindest eine erste Annäherung. Durch Vermittlung der EU-Aussenbeauftragten Catherine Ashton und unter Mitwirkung von Vucic auf der Seite Serbiens kam es zu einem Normalisierungsabkommen zwischen Belgrad und Pristina. Darin garantiert Serbien keine weiteren Einflussversuche auf Kosovo. Ausserdem dürfen die Beziehungen zwischen Serbien und seiner einstigen Provinz durch die Beitrittsverhandlung nicht gefährdet werden.
Jene Themen, die Kosovo betreffen, werden daher erst am Ende der Verhandlungen in einem eigenen Kapitel behandelt. Auch wenn es heute noch als Tabu gilt, könnte Serbien letztlich vor die Wahl zwischen der Anerkennung der kosovarischen Unabhängigkeit oder der Nicht-Mitgliedschaft in der EU gestellt werden.
Ob Kosovo dannzumal jedoch zum Stolperstein wird, darf bezweifelt werden. Aleksandar Vucic ist Pragmatiker. Er wandelte sich nach der Wahlniederlage seiner damaligen Partei, der Serbischen Radikalen Partei (SRS), im Jahr 2008 gewissermassen über Nacht vom hartnäckigen Nationalisten zu einem glühenden Europäer. Es käme deshalb nicht überraschend, wenn er, selbst als ehemaliger Verfechter des Grossserbentums, in einem letzten Schritt zur EU-Mitgliedschaft auch die Unabhängigkeit Kosovos anerkennen würde. Bis dahin stehen Vucic und sein künftiges Kabinett bei der Lösung der hausgemachten Probleme vor einer Herkulesaufgabe.