«Heute bekommt man sofort den Gangster-Stempel und niemand will etwas mit einem zu tun haben»

Der Verein Neustart unterstützt seit 1975 Straffällige auf Bewährung. Das braucht Fingerspitzengefühl, Geduld und Überzeugung. Eine Begegnung mit der Geschäftsleiterin und einem Klienten.

Diese Gitterstäbe schliessen weder ein noch aus. Das Tor steht offen für jene, die bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft Hilfe brauchen.

(Bild: Jonas Grieder)

Der Verein Neustart unterstützt seit 1975 Straffällige auf Bewährung. Das braucht Fingerspitzengefühl, Geduld und Überzeugung. Eine Begegnung mit der Geschäftsleiterin und einem Klienten.

Sie suchen eine Wohnung und einen Job. Das ist bei der aktuellen Lage auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt keine einfache Sache. Haben Sie Schulden, wird es noch etwas schwieriger. Und eine wahre Herkulesaufgabe stellt sich Ihnen, wenn Sie ein ehemaliger Straftäter sind. Der Staat stellt Ihnen dann die Bewährungshilfe zur Seite beziehungsweise wird Ihnen diese verordnen. Und stossen die staatlichen Institutionen an ihre Grenzen, kommt der Verein Neustart ins Spiel.

Neustart engagiert sich seit 40 Jahren in der Bewährungs- und Reintegrationsberatung. Der Verein wurde 1975 von einer Gruppe Juristen gegründet. Damals gab es noch keine unentgeltliche Prozessführung, so wie heute. Neustart leistete deshalb vor allem Rechtsberatung für Straffällige – ausschliesslich ehrenamtlich.

Heute ist das anders. «Wir sind vor allem sozialarbeiterisch tätig und haben inzwischen einige bezahlte Stellen», sagt Barbara Widzgowski, Geschäftsleiterin des Vereins. Die Klienten gelangen auf unterschiedlichen Wegen zu Neustart. Manche kommen freiwillig. Der Verein hat sich unter Straffälligen einen guten Ruf erarbeitet, und der spricht sich herum.

Straftäter mit hohem Rückfallrisiko, die aber keine schweren Verbrechen begingen, können verpflichtet werden, sich bei Neustart zu melden. Der Verein steht in einem Auftragsverhältnis zu den staatlichen Bewährungshilfen BS und BL, deren Kapazitäten oftmals ausgelastet sind. Und manchmal sind es auch Angehörige, die bei Neustart Rat suchen.



Barbara Widzgowski, Geschäftsleiterin des Vereins Neustart, am Gesprächstisch mit dem Klienten M.

Barbara Widzgowski, Geschäftsleiterin des Vereins Neustart, am Gesprächstisch mit dem Klienten M. (Bild: Jonas Grieder)

Hauptaufgabe des Vereins ist die Rückfallprävention. «Wenn man verhindern will, dass ein Mensch in die Delinquenz zurückfällt, dann muss man Unterstützung bieten, damit aus den Fugen geratene Bereiche des Lebens wieder stabil werden», sagt Widzgowski. Neustart sieht sich darum auf der Seite der Hilfsbedürftigen und nicht als erweiterten Arm der Behörden. «Das ist enorm wichtig für das Vertrauen. Die Menschen, die uns aufsuchen, haben schon genug zu tun mit den Behörden», sagt Widzgowski.

«Wir sind aber dazu da, unsere Klienten zu unterstützen, nicht zu überwachen.» 

Barbara Widzgowski, Geschäftsleiterin Neustart

Werden Klienten von staatlicher Seite zugewiesen, bestünde zwar eine Berichtspflicht. «Wir sind aber dazu da, unsere Klienten zu unterstützen, nicht zu überwachen», so Widzgowski weiter. Wie die Unterstützung konkret aussieht, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Manchen hilft schon ein offenes, ehrliches Gespräch dabei, mit ihrer Situation klarzukommen. Anderen muss man in allen Belangen unter die Arme greifen: bei Bewerbungen für Wohnung und Stelle helfen, bei Verschuldungen mit Gläubigern verhandeln. In jedem Fall ist es das Ziel, den Klienten wieder ein selbstständiges Dasein in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Unterwegs mit dem Gangster-Stempel

In einer Gesellschaft, die sich heute wie vor 40 Jahren noch immer schwertut mit der Wiedereingliederung von Straftätern. Zwar sagt Widzgowski: «Ich denke die Akzeptanz gegenüber ehemaligen Delinquenten ist heute eher grösser als vor 40 Jahren.»

Anders sieht das aber Peter M. (Name von der Redaktion geändert), der aufgrund von Wirtschaftsdelikten mit dem Gesetz in Konflikt kam und bereits zum zweiten Mal die Leistungen von Neustart in Anspruch nimmt. Das erste Mal war es freiwillig, diesmal verordnet. «Es ist eher härter geworden. Früher war die Haltung der Gesellschaft mehr die, dass man sagte: ‹Das kann jedem mal passieren.› Heute hat man sofort den Gangster-Stempel und niemand will etwas mit einem zu tun haben, ganz egal, welches Delikt man beging», sagt M. Er weiss, wovon er spricht: «Ich hätte eine super Stelle gekriegt als Haustechniker. Ich hatte den Vertrag vor mir auf dem Schreibtisch – schon unterschrieben. Dann kam doch noch die Frage nach dem Strafregisterauszug.»

Nicht nur Arbeitgeber oder Vermieter reagieren anders, wenn sie um die kriminelle Vergangenheit ihres Gegenübers Bescheid wissen. «Bist du vorbestraft und das Gesetz will etwas von dir, dann besitzen sie nicht mal mehr den Respekt, dich vorzuladen. Dann holt dich gleich die Polizei. Aus deiner Wohnung um halb sechs Uhr morgens, wenn sie will», erzählt M.



Ein Poster im Büro des Vereins zeigt das implizite Credo.

Ein Poster im Büro des Vereins zeigt das implizite Credo. (Bild: Jonas Grieder)

Nicht alle schaffen den Neustart

M. ist froh um die Unterstützung des Vereins. Nur schon die Tatsache, dass Gespräche und Vereinbarungen dokumentiert werden, sei enorm wertvoll. Bei laufenden Gerichtsverhandlungen beispielsweise könne dadurch belegt werden, dass man sich bemüht, eine Existenz innerhalb der Legalität aufzubauen. «Dann hat man etwas in der Hand und sie glauben einem eher.» Auch die Sensibilisierung für Rückfallrisiken weiss er sehr zu schätzen. «Wenn man rauskommt und nichts hat, dann lauern die Gefahren an allen Ecken. Heute bin ich vorsichtiger und versuche gewisse Gesellschaften zu meiden.»

Nicht alle von Neustart begleiteten Menschen sind auf dem richtigen Weg. Es gebe auch sehr frustrierende Fälle, die immer und immer wieder kommen müssen, die den Weg aus der Drehtür trotz aller Unterstützung nicht finden, sagt Widzgowski.

In M. scheint der Kontakt mit dem Verein aber einiges ausgelöst zu haben. Da körperliche Arbeit aufgrund einer Verletzung nicht mehr infrage kommt, engagiert er sich seit einiger Zeit selbst im sozialen Bereich für Opfer häuslicher Gewalt. Bald will er eine eigene Anlaufstelle gründen.

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Am Donnerstag, 3. September 2015, findet eine Benefizveranstaltung des Vereins Neustart mit dem Satire-Duo Bachmann und Bardelli statt.

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