Seit 65 Jahren ist das Uno-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge Unrwa im Einsatz. Chef Pierre Krähenbühl sagt, dass die Organisation viel erreicht habe – dass nun aber auch gehandelt werden müsse von Seiten von Israel.
Tausende Menschen sind im palästinensischen Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus weiterhin unerreichbar für humanitäre Hilfe. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hatte Jarmuk Ende März angegriffen und kontrolliert Teile des Viertels von Damaskus. Von aussen wird es durch Regierungstruppen belagert. Vor dem Bürgerkrieg in Syrien lebten 160’000 Menschen in dem Viertel, dann noch 18’000 bis zum 1. April, als die IS-Miliz Jarmuk stürmte.
Seither flohen nochmals mehrere Tausend Menschen. Das Uno-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge Unrwa unterstützt Vertriebene aus Jarmuk, die sich heute in verschiedenen Vierteln am Rande von Damaskus befinden, mit Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung, Wasserreinigungsmitteln, Matratzen, Küchenutensilien und Hygiene-Kits. Insgesamt erreichte Unrwa seit Ende März 10’000 Menschen aus Jarmuk.
Nahrung mit 400 Kalorien am Tag
«Unsere Sorge gilt den Menschen, die sich noch in Jarmuk befinden», sagt der Schweizer Unrwa-Leiter Pierre Krähenbühl im Gespräch. «Seit dem 28. März gibt es keinen direkten Zugang mehr zu dem Viertel.» Dort kommt es weiterhin zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und der IS-Miliz sowie weiteren bewaffneten Gruppen auf beiden Seiten. Manchmal herrscht für einige Tage Waffenruhe. Uno-Generalsekretär Ban Ki-Moon bezeichnete Jarmuk nach den Angriffen der IS-Miliz als «innersten Kreis der Hölle» im syrischen Bürgerkrieg. Diese Hölle besteht jedoch schon lange.
Jarmuk wurde seit Juli 2013 mehr als ein Jahr lang von der syrischen Armee belagert. Viele Menschen kamen durch den Mangel an Nahrung und an medizinischer Versorgung ums Leben. Im Jahr 2014 konnte Unrwa nur an 130 Tagen Hilfsgüter ins Viertel bringen, das war mehr als noch 2013. «Aber schon seit 2013 und bis vor den jüngsten Attacken der IS-Miliz hatten die Bewohner von Jarmuk durchschnittlich nur gerade Nahrung von 400 Kalorien pro Tag, statt der 2100, die ein Erwachsener braucht», sagt Krähenbühl.
Aber es fehlt nicht nur an Geld, Sorge macht der Unrwa die Lage im Gazastreifen. Vor zehn Tagen erklärte sich der Internationale Währungsfonds (IWF) beunruhigt über den langsamen Wiederaufbau des Küstengebiets, das seit dem 50-tägigen Krieg zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen im vergangenen Sommer in weiten Teilen zerstört ist. Mehr als 137’660 Gebäude wurden laut Unrwa beschädigt.
Der IWF erinnerte daran, dass die ökonomischen Kosten des Krieges vier Milliarden Dollar betragen. Mit Blick auf den langsamen Wiederaufbau sagt Krähenbühl, aufgrund von Israels Kontrollmechanismen sei es nach wie vor schwierig, Baumaterial in den Gazastreifen zu bringen. Und von den 3,5 Milliarden Dollar, die bei der Geberkonferenz in Kairo im letzten Oktober für den Wiederaufbau zugesagt wurden, sind laut IWF bis Mitte April kaum 30 Prozent überwiesen worden. Noch immer sind im Gazastreifen 120’000 Menschen obdachlos.
Selbst die Weltbank forderte kürzlich die Aufhebung der von Israel vor acht Jahren verhängten Blockade des Gazastreifens. Diese hat schwerwiegende Auswirkungen für die Bewohner. «Vor der Blockade im Jahr 2000 waren 80’000 Menschen auf Nahrungshilfe der Unrwa angewiesen, heute sind es 860’000, obwohl sie in unseren Schulen gut ausgebildet wurden», sagt Krähenbühl. «Es ist eine Statistik der Schande.» Die Leute verloren die Arbeitsplätze, weil nicht mehr exportiert werden kann. «Wegen der Blockade gibt es die Märkte nicht mehr.» Zuvor wurden unter anderem landwirtschaftliche Produkte und Kleider nach Israel, Jordanien und auch nach Europa exportiert.
1,8 Millionen Arbeitslose auf der Fläche von Genf
65 Prozent der Bewohner des Gazastreifens sind jünger als 25 Jahre. «Sie sind gut qualifiziert, aber arbeitslos und haben aufgrund der Blockade keine Bewegungsfreiheit», sagt Krähenbühl. Diese Entwicklung trage nicht zur regionalen Stabilität bei. Für die Jugend gebe es derzeit keine Perspektiven. Im Gazastreifen, auf einer Fläche etwa so gross wie der Kanton Genf, leben 1,8 Millionen Menschen. «Das kann nicht gut gehen und muss auf politischer Ebene erneut angegangen werden.»
Laut Krähenbühl sind von der internationalen Gemeinschaft auf politischer Ebene auch Reaktionen nötig bei Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht. Die israelische Zeitung «Haaretz» berichtete vor wenigen Tagen, Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu wolle über eine Annexion der Siedlungen in den besetzten Gebieten verhandeln. Die Siedlungen sind gemäss dem humanitären Völkerrecht illegal. Eine Annexion durch Israel wäre daher ebenfalls völkerrechtswidrig, sagt Krähenbühl.