Hoffnungsschimmer in der drohenden Apokalypse

Die Zivilgesellschaft wächst schwach und wird von den Faschisten bedroht: Die beiden Dokumentarfilme «Bitte liebt mich!» und «Winter, Go Away» zeichnen im Rahmen des Festivals Culturescapes ein düsteres Bild der politischen Gegenwart Russlands.

«Winter Go Away»: Proteste gegen die erstarrte politische Struktur in Russland. (Bild: Filmstill)

Die Zivilgesellschaft wächst schwach und wird von den Faschisten bedroht: Die beiden Dokumentarfilme «Bitte liebt mich!» und «Winter, Go Away» zeichnen im Rahmen des Festivals Culturescapes ein düsteres Bild der politischen Gegenwart Russlands.

Moskau, Ende 2011. Zwei Arbeiter nahe des Rentenalters sitzen in einer Küche, es ist ein Arbeitstag, die Schicht noch nicht zu Ende, aber Vassily und Vitaly trinken ein Glas Wodka zu eingelegten Gurken und räsonieren. Über die Politik, über Russland, über Putin. «Für den Sport haben sie viel gemacht», sagt Vassily zwischen zwei Schlücken und meint die grosse Zentrumspartei, «im Sport waren wir immer stark. Und Putin ist ein starker Skifahrer.»

Mehr bleibt nicht übrig, und man denkt unweigerlich an Waldorf und Statler, an die beiden sarkastischen Alten aus der Muppet Show, aus deren Mund jedes Kompliment wie eine Ohrfeige wirkt. Bei Vassily und Vitaly aber, auch wenn nur der Wodka dafür sorgen mochte, klingt die Häme hoffnungsvoller. Freunde müssen sie nicht werden, die Elite und die Opposition aus dem Volk, aber einander zuhören. «Vitaly, weisst Du noch, der 1. Mai? Als die Arbeiter durch die Strassen zogen und niemand Angst hatte? Niemand muss vor den Arbeitern Angst haben, wenn man nicht mit Gewehren auf sie schiesst.» So klang das im Moskauer Winter 2011/12, in den Wochen vor den russischen Präsidentschaftswahlen.

Erstarrte Struktur

Von diesen Wochen handelt der Dokumentarfilm «Winter, Go Away», und vielmehr als den Frost im russischen Boden meint der Titel die erstarrte politische Struktur. Zehn Absolventen der Moskauer Dokumentarfilm-Akademie von Marina Mazbezhinka haben sich in der russischen Hauptstadt auf die Strassen gemacht und mittels Handkameras versucht, die Spuren einer zivilgesellschaftlichen Opposition einzufangen. Es war derjenige Winter, indem die global ausgerichtete Occupy-Bewegung auch in Moskau sichtbar wurde, und Demonstranten sich die grinsende, mittlerweile ikonischen Symbolstatus erlangte Guy-Fawkes-Maske anzogen, um anonym Transparente im öffentlichen Raum anzubringen. «Putin stahl unser Geld», steht darauf, und in einigen kurzen Sequenzen entweicht dem Film seine Differenzkraft und schliesst den politischen Protest mit antikapitalistischem Vokabular kurz.

Nationalismus herrscht

Den stärkeren Eindruck hinterlassen, der hochenergetischen Nähe zum Strassenprotest und den Reibereien mit der Polizei zum Trotz, hingegen die weniger spektakulären Szenen. «Winter, Go Away» macht sich auf die Suche nach den politischen Alternativen zum System Putin, klappert verschiedene Kandidaten und Aktivisten ab und geht der Frage nach, wie tief sich in der Bevölkerung gut zwanzig Jahre nach dem Fall der Sowjetunion ein Glaube in die demokratischen Prozesse sedimentiert hat. Die Resultate müssen den Filmern, deren Haltung trotz Verzicht auf konkrete Kommentare deutlich visualisiert ist, ernüchternd erschienen sein.

In einer Schulklasse votiert einer für Putin, weil sich unter einem anderen Präsidenten sowieso nichts ändern werde, ein anderer unterstützt einen schwerreichen Alternativkandidaten, weil dieser aufgrund seines Vermögens es nicht mehr nötig habe, das Volk zu berauben. Ein Taxifahrer setzt sich rigoros für Putin ein, weil ein Präsident ohne deutlichen Vertrauensvorschuss zur Repression als politisches Mittel zum Machterhalt nachgerade gezwungen werde. Und unter den Alternativkandidaten und Aktivisten schwingen nationalistisch motivierte Argumente obenaus.

Zeitungsredakteure im Streit

All das ist für westliche Ohren nicht ermutigend zu hören, und das mittlerweile bekannte Ergebnis, die erneute Wahl Putins zum Präsidenten nach seinem Intermezzo als Premierminister unter Medwedew – von einem Aktivisten in der schönen Zote gefasst, Präsident Putin werde die Fehler von Premierminister Putin korrigieren, die dieser vom vormaligen Präsidenten Putin geerbt habe –, lässt die Winterproteste als Übung ohne Wert erscheinen. Der Film hält allerdings noch einen anderen Einblick parat, der Einsicht gibt in die muntere Diskussionslust sowie in ein waches Bewusstsein für demokratisch-rechtsstaatliche Prinzipien bietet: Am Sitzungstisch einer Zeitschriftenredaktion streiten sich zwei Redakteure heftig, aber sachlich über die Nachteile der verschiedenen Kandidaten; eine junge Frau mit einem Protestschild verkeilt sich in ein hitziges Gespräch mit einem Veteranen aus dem fernen Tatarstan, um am Ende zu einem Konsens zu gelangen.

Und während der Stimmabgabe in den Wahllokalen empören sich Bürgerinnen und Bürger, weil der Chef des Wahllokals mit den Stimmpapieren verschwindet. Das sind hoffnungsvolle Szenen, und tatsächlich erreichte Putin in Moskau an den Wahlen im vergangenen März keine Stimmmehrheit. Moskau ist jedoch nicht Russland: an den Peripherien des Riesenreichs betrug seine Gutheissung teilweise über 90 Prozent.

Attentat auf Menschenrechtsanwalt

Noch düsterer ist das Bild, das der Film «Bitte liebt mich!» des Dokumentarfilmers und Journalisten Valery Balayan von der politischen Gegenwart Russlands zeichnet. «Bitte liebt mich!» waren die Worte, die die 25-jährige Journalistin Anastasia Barburova in einem ihrer letzten Briefe aus Moskau an ihre Eltern richtete, bevor sie im Januar 2009 durch ein neonazistisches Attentat getötet wurde. Das Attentat galt primär dem Menschenrechtsanwalt Stanislav Markelov, Rechtsvertreter der 2006 getöteten Journalistin Anna Politkovskaya und mehrerer tschetschenischer Bürger, die Opfer von Folterübergriffen wurden.

Allerdings hat auch Barburova als junge Journalisten und bekennende Anarchistin sich eingehend mit dem faschistischen Milieu Russlands befasst und unter anderem Artikel über den Rechtsextremenführer Maxim Martsinkevich verfasst. Der Film bleibt nahe dran an Barburovas Biografie, an ihren Eltern, ihrer Lehrerin, Arbeitskollegen, Freundinnen und antifaschistischen Mitstreitern und zeichnet ein Bild von einer engagierten und äusserst talentierten Journalistin. Als Hintergrundfolie breitet Filmemacher Balayan indes das Spektrum der gewaltbereiten Neonaziszene Russlands aus – allerdings ohne Originalmaterial, sondern mit YouTube-Clips, mit Propagandapostern und TV-Archivaufnahmen.

Hohes Gewaltpotenzial

Die Menge ist bedrückend repetitiv – und hinterlässt Ratlosigkeit. In den Propagandavideos hört man Neonazis aggressiv gegen jüdisch-freimaurische Weltverschwörungen, gegen asiatische Fertilitätsraten, gegen ethnische Minderheiten Russlands wie Kaukasier oder Turkvölker wettern, während die Russen zu gesundem Lebensstil, nationalem Stolz und hoher Geburtenzahl zur nationalen Verteidigung ermahnt werden.

Einblicke in die Tiefenstruktur des Rechtsextremismus, in die nur angedeuteten Verbindungen zu Politik und Militär, zu seinem explodierten Gewaltpotenzial sowie zur höchst irritierenden Frage, wie ein Land, zu dessen nationalem Selbstverständnis noch heute der Sieg über den Faschismus 1945 gehört, ein offenkundig relevantes nationalfaschistisches Milieu hervorgebracht hat, das unverhüllt dem Dritten Reich frönt. «Es ist eine Schande», sagt Anastasias Barburovas trauernder Vater, der neben seinem eigenen Vater, im Zweiten Weltkrieg an der deutsch-sowjetischen Front gefallen, nun auch seine Tochter an den Faschismus verloren hat. Was aus diesem Russland geworden ist – es bleibt ihm opak und fremd, und die Zukunft schimmert ihm apokalyptisch: «Wenn sie nicht gestoppt werden, wird Russland mit seinen Atombomben noch ein gefährlicheres Land als das Nazireich.»

  • «Bitte liebt mich!»: 1. & 2. November, 21 Uhr. Neues Kino Basel.
  • «Winter, Go Away»: 15. & 16. November, 21 Uhr: Neues Kino Basel.
  • Im Rahmen des Festivals Culturescapes

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