Nach einem verpatzten Start nach seiner Wahl 2012 reisst der französische Präsident François Hollande das Steuer herum, um die Wirtschaft endlich auf Touren zu bringen. Noch drückt er aber nicht genug auf den Gashebel.
Die Franzosen hoffen nur noch auf ein Wunder: Ihre Einsätze in Lottoscheine, Pferdewetten und Glückspiele sind binnen Jahresfrist um 76 Prozent hochgeschnellt – auf 46,2 Milliarden Euro. Die horrende Zahl sagt viel aus über die Befindlichkeit der Nation. Soziologen sprechen von einer «kollektiven Depression», in der die Franzosen nur noch an Madame Soleil glauben.
Jedoch nicht mehr an den Wunderheiler im Elysée: Staatspräsident François Hollande wird von 84 Prozent der Franzosen für unfähig gehalten, sein Land zu reformieren. Das brutale Umfrageergebnis weckte den 60-jährigen Berufsoptimisten vor zwei Wochen offenbar selbst auf: Unter einem Vorwand bildete er die Regierung um und holte mit Emmanuel Macron einen neuen Wirtschaftsminister, der sich als «sozialliberal» bezeichnet – ein Wort, das auf der französischen Linken bisher tabu war.
Hollande wollte Mieter schützen und lähmte den Imobilienmarkt
Hollande ist gewiss kein Blair oder Schröder. Aber er hat eingesehen, dass er, wenn er 2017 eine Wiederwahlchance haben will, seinen Wahlslogan von 2012, «den Wandel jetzt», wirklich umsetzen muss. Bisher hatte er sich mit der traditionellen «Werkzeugkiste» – so Hollandes eigener Ausdruck – der französischen Sozialisten beholfen. Er erhöhte 2012 die Staatsausgaben, Beamtenstellen und Steuern; für Einkommensmillionäre setzte er gar eine 75-Prozent-Steuer durch.
Auf sein Geheiss erliess Wohnbauministerin Cécile Duflot ein Gesetz, das die Mieter schützen sollte. Das lähmte den Immobilienmarkt noch ganz und machte Hollandes Wahlversprechen, er werde eine halbe Million Neuwohnungen schaffen, noch unglaubwürdiger.
Bezeichnend auch seine Ankündigung von 2012, er werde den französischen Unternehmen einen Steuerkredit von 20 Milliarden Euro gewähren. Das Verfahren war so kompliziert, dass es kaum benutzt wurde. Auch andere Massnahmen blieben kosmetischer Natur.
Historisches Hoch bei den Arbeitslosen
Vor knapp einem Jahr realisierte Hollande, dass er damit nicht weiterkam. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf 11 Prozent, womit 3,4 Millionen Franzosen ohne Job sind – ein historische Rekord. Nun mutierte der Sozialist, wie er selber eingestand, zum Sozialdemokraten.
Den Rückwärtsgang einlegend, kündigt Hollande plötzlich Steuersenkungen für tiefere Einkommen an. Ausserdem bietet er der Privatwirtschaft einen «Pakt der Verantwortung» an: Wenn sie Arbeitsplätze schafft, senkt er ihre Steuern und Abgaben, und das nicht nur um 20, sondern um 50 Milliarden Euro.
Ein uraltes Bonmot besagt, dass Frankreich wohl Revolutionen möge, aber keine Reformen.
Premierminister Manuel Valls, den Parteilinke mit dem konservativen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy vergleichen, deklamierte vergangene Woche vor dem Unternehmerverband Medef: «Ich liebe die Unternehmen.» Die begeisterten Patrons vergalten es ihm mit einer stehenden Ovation. Darau hebelte er Duflots Mieterschutzgesetz aus. Die Baubranche applaudiert heftig. Nur die Parteilinke schreit empört auf und erinnert Hollande an sein Wahlversprechen Nummer 22, den Mieterschutz.
Der Präsident geht darüber hinweg. Aber er weiss: Wenn der linke Flügel seiner Parti Socialiste (PS) den «Pakt der Verantwortung» zurückweist, sieht es schlecht aus für den Pakt. Und für ihn selbst, verfügt er in der Nationalversammlung doch nur über eine dünne Mehrheit.
Notare, Taxichauffeure und Apotheker graben das Kriegsbeil aus
Auf Hollande und Valls warten noch härtere Widerstände. Das Pariser Führungsduo will mehrere überreglementierte und zum Teil blockierte Branchen liberalisieren. Doch die Notare, Taxichauffeure und Apotheker graben bereits das Kriegsbeil aus. Und das, noch bevor etwas angekündigt, geschweige denn beschlossen ist. Gegen die Staatsangestellten – das heisst seine eigenen Wähler – wird sich Hollande auch nicht durchsetzen können, sodass eine profunde Reform des überbordenden Zentralstaats kaum möglich scheint. Auch das französische Arbeitsrecht, dessen 12’000 Paragrafen zwischen Buchdeckeln fast 1,5 Kilogramm wiegt, müsste ausgemistet und vereinfacht werden.
Hollande ist aber politisch zu geschwächt, um diese brisanten Grossdossiers anzupacken. Das ist nicht nur seine Schuld: Ein uraltes Bonmot besagt, dass Frankreich wohl Revolutionen möge, aber keine Reformen. Immerhin erwacht die Grande Nation derzeit langsam aus ihrer Starre, in der sie seit den Zeiten Mitterrands und Chiracs verharrte. Zur Ironie Frankreichs gehört es, dass der farblose Sozialbewahrer Hollande schliesslich mehr bewegen dürfte als der liberalkonservative Gestikulierer Sarkozy.
Folgen für die Schweiz
Die Auswirkungen der neuen französischen Wirtschaftspolitik auf die Schweiz dürften langfristig eher positiv ausfallen. Zum einen dürfte der neue Wirtschaftsminister Macron als ehemaliger Privatbanker auch bei umstrittenen Themen wie der Pauschalbesteuerung oder der Erbschaftsbesteuerung pragmatischer vorgehen als sein Vorgänger Arnaud Montebourg. Allerdings muss auch er die Staatskasse wieder füllen, weshalb er die Rückkehr der Fluchtgelder nur begrüssen kann.
Der zweite Grund ist konjunktureller Natur. Wenn die Regierung in Paris die französische Wirtschaft wieder auf Touren bringen, nützt dies natürlich auch den Nachbarn und namentlich den Schweizer Exporten. Allzu gross dürfen die Erwartungen nicht sein: Zehn Jahre nach Deutschland ist Frankreich «der kranke Mann Europas», und Macron wird keine Wunder bewirken. Aber seine Nominierung ist für die französischen Unternehmen ein Hoffnungsschimmer – der erste seit langem. Nach der Rezession von 2009 und der folgenden Stagnation könnte Frankreichs Wirtschaft die Talsohle durchschritten haben.
Hollandes wirtschaftspolitische Baustellen in der Übersicht
Staatsfinanzen
Frankreich hat seit 34 Jahren kein ausgeglichenes Haushaltbudget mehr verabschiedet. Höchstwahrscheinlich wird die Regierung in Paris sogar ihr erklärtes Ziel, den Fehlbetrag bis 2015 auf 3 Prozent zu drücken, verpassen. Die Ausgaben des Staates – der für 57 Prozent des Bruttoinlandproduktes aufkommt (Deutschland: 45 Prozent) – steigen immer stärker; zudem will Hollande heute die Steuern senken, um den Binnenkonsum und die Wirtschaftsproduktion anzukurbeln. Seine Kernreform, der «pacte de responsabilité» (Pakt der Verantwortlichkeit), sieht vor, die Abgabelast der Unternehmen um 50 Milliarden zu senken; im gleichen Umfang sollen die Staatsausgaben sinken. Doch der linke Flügel der sozialistischen Regierungspartei leistet Widerstand. Daher drängt Hollande die EU auf Ankurbelungsmassnahmen. Die Einberufung eines «Wachstumsgipfel» ist bereits ein Erfolg für ihn.
Arbeit: Löhne steigen
Frankreich ist international nicht mehr wettbewerbsfähig, was sich in einer dramatischen Desindustrialisierung und einer rekordhohen Arbeitslosigkeit von gut 11 Prozent äussert. Frankreichs Firmen haben europaweit eine tiefe Investitionsquote, und die Löhne steigen stärker als anderswo im Euroraum. Waren sie vor zehn Jahren noch tiefer als in Deutschland, liegen sie heute höher. Mit ein Grund für diese Entwicklung ist die 35-Stundenwoche, die in Frankreich arithmetisch zu einem stärkeren Lohnanstieg führte. Heute arbeiten die Franzosen 2,7 Prozent weniger lang als die Deutschen. Wenn, dann arbeiten die Franzosen allerdings speditiv: Die Produktivität pro Arbeitsstunde liegt in Frankreich höher als anderswo in der EU. Frankreichs neuer Wirtschaftsminister Emmanuel Macron ist für eine Reform der «35 heures» wie auch eine Lohnmässigung. Hollande lässt dies aber nicht zu.
Sozialversicherung: Defizit knackt 10-Milliarden-Grenze
Frankreich hat ein grosszügiges, trotz aller Bürokratie relativ gut funktionierendes Gesundheitssystem, die Sécurité Sociale. Bloss steigt auch ihr Defizit. Dieses Jahr dürfte es die 10-Milliarden-Grenze übersteigen. Die Regierung Hollande will es bis 2017 um 50 Milliarden Euro senken. Derzeit läuft zum Beispiel ein Experiment, bei dem Apotheken Pillen und Medikamente nicht mehr schachtelweise, sondern einzeln verkaufen. Zu teuer ist auch das Rentensystem. Die Franzosen erhalten im EU-Vergleich relativ hohe Beiträge ausbezahlt. Auch liegt das Rentenalter mit 62 Jahren tiefer als anderswo. Hollande hat es nach seinem Wahlantritt 2012 sogar für gewisse Kategorien (Berufseinsteiger mit 18, körperlich harte Jobs) auf 60 Jahren gesenkt. Deshalb kann er der verbreiteten Forderung nach einer Erhöhung des Rentenalters schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht nachgeben.
Staatsapparat: Paris baut Stellen ab, die Departemente aus
Niemand bestreitet, dass Frankreich einen zu schwerfälligen Verwaltungsapparat hat. Deshalb kommt Frankreich auf eine andernorts unerreichte Staatsquote von 57 Prozent (siehe Abschnitt zu den Finanzen). Die Regierung will nun Doppelspurigkeiten bei der Gebietsverwaltung abbauen: Die Zahl der Regionen soll von 22 auf 13 reduziert werden; und sie sollen langfristig auch Kompetenzen der kleineren, insgesamt 100 Departements übernehmen. Die Forderung von Raumplanern, mit den Departementen eine ganze Verwaltungsstufe abzubauen, kommt für Hollande aber nicht in Frage. Seine Gebietsreform geht daher nicht weit genug, um wirkliche Einsparungen zu erbringen. Schlimmer noch: Während der Zentralstaat aus Kostengründen Arbeitsplätze abzubauen versucht, nimmt die Zahl der Beschäftigten in den Gebietsverwaltungen (Kommunen, Departemente, Regionen) stärker zu.
Industriepolitik: Es fehlen KMUs
Frankreich hatte schon immer eine ambitiöse Industriepolitik – vom Concorde-Überschallflugzeug über Airbus, Ariane-Rakete bis zum TGV-Hochgeschwindigkeitszug, aber auch bei Staatseingriffen wie etwa jüngst in Sachen des Privatkonzerns Alstom. Das unternehmerische Denken ist in Frankreich unterentwickelt. Zum einen gibt es in Frankreich nur 5000 mittelständische Betriebe – ein Bruchteil der Zahl in Deutschland. Laut dem Pariser Wirtschaftsrat CAE fehlen in Frankreich 10’000 Firmen à 300 Mitarbeiter. Zudem liegen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung mit gut zwei Prozent unter dem OCED-Schnitt. Der Staat fördert die Innovation. Hollande will etwa die Unternehmenspraktika von Studenten stärken; auch fördert er die IT-Ausbildung und will – durch die Förderbank BPI – mehr staatliches Risikokapital zur Verfügung stellen. Ein Tropfen auf den heissen Stein.