Hongkong ist nicht Tiananmen

In westlichen Medien werden die Studentenproteste in Hongkong mit Tiananmen 1989 verglichen. Zu Unrecht.

Protest-Teilnehmerin in Hongkong: Ikone der Freiheit oder Lehrling in Sachen Demokratie? (Bild: CARLOS BARRIA)

Demonstranten auf der Suche nach Demokratie hier, der repressive Staatsapparat da – die Berichterstattung über die Proteste in Hongkong verzerrt die Tatsachen. Peter Achten, langjähriger China-Korrespondent, rückt die Vorgänge ins passende Licht.

Zu Zehntausenden besetzten idealistische Studenten und Mittelschüler zentrale Punkte in der Wirtschafts- und Finanzmetropole Hongkong. Sie forderten Demokratie. Der Protest nahm seinen Anfang, als Demonstranten Regierungsgebäude besetzten. Die Polizei von Hongkong griff wie auch irgendwo in Europa üblich mit Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcken ein. «Brutale Gewalt» titelten darauf westliche Medien.

Eine Woche war dann Hongkong auf allen Kanälen zu verfolgen. Zumal am Fernsehen, denn bildmässig gab die Story viel her. Auch auf Online-Newssites, am Radio und selbstverständlich auch in der gedruckten Presse war Hongkong Thema Nummer eins. Mit wenigen Ausnahmen kam fast nur die Sicht der Demonstranten zum Ausdruck.

Dumme Vorwürfe

Kein Wunder, denn die angereisten Fallschirm-Journalisten führten sich auf wie die bei anderer Gelegenheit medien-ethisch verurteilten «embedded journalists» amerikanischer Prägung. Die China-Redaktorin des britischen Qualitätssenders BBC, ein Leuchtturm des westlichen Qualitäts-Journalismus, bloggte gar pathetisch, sie verfolge «Geschichte im Entstehen».

Am Gerangel mit den Demonstranten waren zum grössten Teil kleine Gewerbetreibende beteiligt, die um ihre Geschäfte bangten.

Als es am Freitag zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten kam, raunten westliche Medien sofort, das sei von China organisiert. Es waren neben einer Triade-Gang zum grössten Teil aufgebrachte kleine Gewerbetreibende, die um ihre Geschäfte bangten.

Der Verdacht, Peking habe das Gerangel inszeniert, ist ungefähr so dumm, wie der Vorwurf Chinas, die Hongkonger Demonstrationen seien vom Ausland gesteuert. Im Zeitalter des Copy-Paste-Journalismus jedoch verbreiten sich all die ungeprüften on-dits in Windeseile auf allen digitalen und analogen Kanälen.

Kein Glanzstück des Journalismus

Insgesamt war die Hongkong-Berichterstattung fürwahr kein Glanzpunkt des viel zitierten westlichen Qualitätsjournalismus‘. Ein bekanntes Schweizer Online-Newsportal stellte gar die Frage: «Gibt es ein zweites Tiananmen-Massaker?»

Wer so titelt, hat keine Ahnung von Geschichte im Allgemeinen und von Tiananmen 1989 und Hongkong im Besonderen. Selbstverständlich aber lassen sich so die Klick-Zahlen erhöhen. Und darauf kommt es schliesslich an.

Beim Fernsehen ist es nicht anders. In Live-Schaltungen auf sämtlichen Kanälen erklären besorgte Journalistinnen und Journalisten «vor Ort» die Lage. Einseitig, aber mittendrin. Dass es auch anders geht und was guter Journalismus ist, zeigen wenige Ausnahmen, so zum Beispiel die nuancierte, unaufgeregte Berichterstattung des NZZ-China-Korrespondenten oder der FAZ-Korrespondentin, beide ebenfalls «vor Ort».

Hier einige Punkte, die es bei der Verfolgung der Hongkonger Demokratiebewegung zu beachten gilt. Ein – um es Neudeutsch zu formulieren – Reality-check.

Worum geht es?

Im Mittelpunkt des Konflikts zwischen der Demokratiebewegung und der von Peking abgesegneten Regierung der Sonderverwaltungsregion Hongkong steht die auch von Peking für 2017 versprochene allgemeine Volkswahl des Regierungschefs. Bisher wurde er durch ein Wahlkomitee – bestehend zunächst aus 400, bei der letzten Wahl 2012 aus 1200 Mitgliedern – bestimmt. Das Wahlkomitee setzte sich zusammen aus Vertretern von Gewerben, Wirtschaft, Handel und Finanzen.

Unbestritten ist bei der nächsten Wahl 2017, dass das Volk das Sagen hat. Freilich gehen die Meinung der Demokraten im Lokalparlament und der Protestbewegung auf der einen Seite und Peking sowie der in Hongkong bestimmenden Wirtschaftskreise auf der andern Seite in einer zentralen Frage weit auseinander. Wer darf Kandidat sein? Wer bestimmt die Kandidaten?

Die demokratischen Kräfte im Parlament (Legco) und die studentischen Demonstranten wollen Kandidaten auf demokratische Art auswählen. Peking beharrt darauf, dass nur «patriotische», von einem Komitee ausgewählte Kandidaten sich zur Wahl stellen dürfen.

Wer protestiert?

Es sind vor allem junge Menschen, Studenten und Mittelschüler zumal. Organisiert sind die Demonstranten in der «Hongkong Federation of Students», der zurückhaltendere und wohl auch pragmatischere Teil der Bewegung. Der kompromisslosere, auf Maximalforderungen beharrende Teil ist in der Mittelschul-Organisation «Scholarism» eingebunden. «Scholarism» hat sich bereits erfolgreich gewehrt, als Peking vor zwei Jahren in den Mittelschulen das Pflichtfach Patriotismus einführen wollte.

Das Aushängeschild von «Scholarism» ist der 17 Jahre alte Joshua Wong, der Darling der westlichen Fernsehstationen. Schliesslich agiert auch die über Academia herausreichende Bewegung «Occupy Central with Love and Peace» mit. Einer der Gründer der Occupy Central Bewegung, Benny Tai Ziu-ting, sprach von einer «neuen Ära des Widerstandes».

Eine einheitliche Führung des Protests gibt es bislang nicht. Die Forderungen aller jedoch sind gleich: Rücktritt des Hongkonger Regierungschefs Leung Chun-ying, allgemeine Wahlen 2017 mit der demokratischen Auswahl von Kandidaten.

Der Standpunkt Pekings

Bei der Auswahl der Kandidaten für den Regierungschef 2017 bleibt Peking bei der seit Hongkongs Rückkehr zum Mutterland 1997 angewandten Praxis. Die Kandidaten «müssen patriotisch sein und das Land lieben». Am 30. August hat der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in Peking entschieden, dass alle Kandidaten von «mehr als der Hälfte der Mitglieder» eines «umfassend repräsentativen Nominierungskomitees» unterstützt werden müssten. Zwei, maximal drei Kandidaten werden dann dem Volk zur Wahl präsentiert.

Schon Anfang Jahr hat China zum ersten Mal seit 1997 ein «White Paper» veröffentlicht, um seine Position klar zu machen. «Eine umfassende Jurisdiktion» Chinas über Hongkong wird unmissverständlich in Erinnerung gerufen und kritisiert, dass «einige Leute» in Hongkong in Bezug auf das Verständnis des Prinzips «Ein Land – Zwei Systeme» total verwirrt seien.

Die in Peking erscheinende Tageszeitung «Global Times» – ein Ableger des zentralen Parteiblattes «Renmin Ribao» (Volkszeitung) – schrieb, die Hongkonger Demokraten hätten «unrealistische Erwartungen», die es «auszulöschen» gelte, «mit Zwangsmassnahmen» wenn nötig.

Die Staatsmedien geben den Tarif durch

Die ganze Protest-Woche über gaben Chinas gelenkte Staats- und Parteimedien den immer gleichen Tarif durch. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) setzte gleich am Anfang den Ton und bezeichnete die Hongkonger Demonstrationen als «illegal».

Mitte der Woche schrieb das Sprachrohr der allmächtigen Kommunistischen Partei «Renmin Ribao»: «Hongkongs Prosperität ist in Gefahr». Occupy Central habe die Basis der Hongkonger Gesellschaft ruiniert. Recht und Ordnung seien der fundamentale Pfeiler und die Grundwerte Hongkongs. «Aber viele der Occupy-Demonstranten», folgerte der Volkszeitungs-Kommentator, «betrachten egoistisch das Recht als grundlos».

Die Pekinger Tageszeitung wiederum schrieb: «Alle Sektoren der Gesellschaft in Hongkong fordern, dass Recht und Ordnung wieder hergestellt wird». Aussenminister Wang Yi, gerade auf Besuch in den USA, bezeichnete die Demonstrationen als «illegal» und verbat sich von Amerika die «Einmischung in innere Angelegenheiten».

Trotz Zensur sind viele Chinesen ziemlich gut über die Hongkonger Demonstrationen informiert, ohne deshalb deren Forderungen zu teilen.

In der zweiten Wochenhälfte warnte «Renmin Ribao» vor «unvorstellbaren Konsequenzen», falls weiter demonstriert werde, sprach aber gleichzeitig Regierungschef Leung das Vertrauen aus: «Hongkongs Regierung hat die Fähigkeit, die aktuelle Situation streng nach Gesetz zu bewältigen».

Das Staatsfernsehen CCTV meinte, die Hongkonger Polizei sollte unterstützt werden in ihrem Versuch, «die soziale Ordnung so schnell als möglich wieder herzustellen».

Insgesamt vermitteln die zensurierten chinesischen Medien den Eindruck, dass das «Chaos» in Hongkong nur bei «wenigen Leuten liegt, die das Recht missachten». Trotz Zensur freilich sind die meisten Chinesen, die ich kenne, ziemlich gut über die Hongkonger Demonstrationen informiert, ohne deshalb auch schon deren Forderungen zu teilen. Im Gegenteil.

Ein guter Bekannter mit amerikanischem Universitätsabschluss fragte konsterniert, warum denn die Hongkonger Jugend überhaupt demonstriere. Denen gehe es wirtschaftlich sehr viel besser als den Bewohnern auf dem Festland, überdies hätten sie alle Freiheiten.

Wenn von den fast fünf Millionen Stimmberechtigten in Hongkong bei der Wahl 2017 auch nur zwei Millionen leer einlegen würden, meinte ein selbständiger Kleinunternehmer, beeindruckte dies die chinesische Führung sehr viel mehr, als die ganze jetzige Demonstration. Diese Meinungen sind wohl typisch für den in den letzten 15 Jahren in China entstandenen Mittelstand.

Der falsche Vergleich mit Tiananmen

In den westlichen Medien wurden immer wieder Parallelen zum Zwischenfall auf dem Platz vor dem Himmlischen Frieden Tiananmen vor 25 Jahren gezogen. Der Vergleich ist falsch, irreführend, ahistorisch und marktschreierisch.

China 1989: Die Volksrepublik war kein Rechtsstaat. Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit existierten zwar in der Verfassung, nicht aber in der Wirklichkeit. China litt damals unter einer überhitzten Wirtschaft und einer Hyperinflation. Das führte dazu, dass sich Arbeiter, Intellektuelle, Parteikader, Journalisten, Regierungsangestellte den Studentendemonstrationen anschlossen.

Die Arbeiter und Angestellten spielten damals neben den Studenten eine tragende Rolle, ein Faktum, das in der westlichen Berichterstattung selten erwähnt wird. Die Demonstranten kämpften für mehr Transparenz in der Regierung und gegen die grassierende Korruption. Gescheitert ist die Bewegung schliesslich an Maximalforderungen, nämlich Rücktritt der Zentralregierung.

Auch 17 Jahre nach der Rückkehr ins Mutterland gibt es in Hongkong noch Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Hongkong 2014: Die Sonderverwaltungs-Region ist ein Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz und einer unabhängigen Korruptionsbehörde. Auch 17 Jahre nach der Rückkehr ins Mutterland gibt es noch Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, auch wenn Journalisten zuweilen die – auch im Westen bekannte – «Schere im Kopf» aktivieren. Wirtschaftlich ist Hongkong gut aufgestellt. Allerdings wird, wie im Westen, der Abstand zwischen den Reichen und dem Rest immer grösser.

Die Hongkonger Protestbewegung hat mit grosser Disziplin und friedfertig, wenn auch unbewilligt, viel für das demokratische Bewusstsein in der ehemaligen britischen Kronkolonie erreicht. Doch Maximalforderungen – Rücktritt von Regierungschef Leung sowie Zugeständnisse Pekings in der Kandidatenfrage – bringen das Erreichte in Gefahr.

Die Studenten haben zwar Rückhalt über ihre universitären Kreise hinaus, doch der während der Woche von vielen westlichen Medien verbreitete Eindruck, ganz Hongkong stehe hinter Occupy, ist falsch. Für Hongkongs demonstrierende Jugend jedoch ist es schwierig, die allerwichtigste Demokratie-Lektion bereits gelernt zu haben: einen tragbaren Kompromiss zu finden zwischen Minderheits- und Mehrheitsmeinung.

Und Taiwan?

Von Taiwan war die ganze Woche medial fast überhaupt nicht die Rede. Zu unrecht, denn Taiwan verfolgt seit Jahren all das, was in Hongkong geschieht, mit Argusaugen. Präsident Ma Ying-jeou, seit sechs Jahren mit seiner nationalistischen Kuomintang-Partei an der Macht, sagte: «Wir verstehen und unterstützen Hongkongs Forderung nach freien, allgemeinen Wahlen».

Die Medien berichten breit und differenziert. Mas offenes Wort ist ungewöhnlich, war er es doch, der in den letzten Jahren zum Teil gegen grosse Skepsis im Volk die Annäherung an China energisch vorangetrieben hat. Sollte jetzt in Hongkong etwas total aus dem Ruder laufen, rückte Deng Xiaopings gerade auch für Taiwan geträumte grosse Traum in weite Ferne. Die Rückkehr nämlich der «abtrünnigen Provinz» Taiwan ins Reich der Mitte.

Dass sich auch die ehemalige Kolonialmacht Grossbritannien in die «inneren Angelegenheiten Chinas» mischt und Besorgnis heuchelt, entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie. Die Briten nämlich hatten als Kolonialmacht während ihrer über 150 Jahre nie auch nur den kleinsten Schritt hin zur Demokratie gemacht. Der Gouverneur wurde von London bestimmt. Ohne Mitsprache der Kolonisierten. Punkt.

Das zu ändern, ist dann erst dem allerletzten Gouverneur Christopher Francis Patten in extremis kurz vor 1997 eingefallen. Ein Danaer-Geschenk als schweres Erbe, das Hongkong bis heute umtreibt.


Dieser Artikel erschien zunächst auf der Internet-Plattform infosperber.ch

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