Die südafrikanische Schriftstellerin Nadine Gordimer feiert heute ihren 90. Geburtstag – und blickt zurück auf ihren lebenslangen Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung.
«Hohes Alter allein ist keine Leistung. Was zählt, ist was man aus den Jahren gemacht hat.» Mit diesen Worten gratulierte Nadine Gordimer ihrem Freund Nelson Mandela vor Jahren zu seinem 90. Geburtstag. Am vergangenen Mittwoch wurde die Grande Dame der südafrikanischen Literatur selber 90 – und keine Frage: Auch sie hat sehr viel in ihrem Leben gemacht.
Als sie 1991 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, hiess es in der Würdigung, ihre «epische Dichtung» habe der «Menschheit einen großen Nutzen erwiesen», die tiefen Einblicke in das historische Geschehen hätten dazu beigetragen, dieses Geschehen zu formen. Angesichts ihres hohen Alters wirkt Nadine Gordimer mittlerweile zwar zart und zerbrechlich, von ihrer Wortgewalt hat sie jedoch nichts verloren. Ebenso engagiert, wie sie früher als Aktivistin dem Apartheid-Regime die Stirn bot, erhebt sie heute ihre Stimme gegen die ANC-Regierung, wenn es um Fragen der Meinungsfreiheit oder sozialen Gerechtigkeit geht. Beim Besuch in ihrem Haus in Johannesburg wird sofort klar: Nadine Gordimer hat nichts von ihrem Kampfgeist verloren.
Frau Gordimer, Sie sitzen auch mit 90 noch jeden Vormittag am Schreibtisch und arbeiten. Ist das Schreiben wie ein Lebenselixier für Sie?
Nadine Gordimer: Das Schreiben war sicherlich schon immer die Antriebsquelle in meinem Leben. Schreiben kann man nicht lernen, auch wenn das einige Leute schockieren mag. Ebenso wenig wie man jemandem beibringen kann, ein Weltklasse-Opernsänger zu werden. Wer in der Mailänder Scala auftritt wird mit einzigartigen Stimmbändern geboren. Womit Schriftsteller geboren werden, weiß ich nicht. Diese Gabe ist einfach vorhanden und man verspürt den Drang, sie auch zu nutzen
In Ihrem ersten Roman «Entzauberung» (1953) entdeckt eine junge, weisse Südafrikanerin, in welchen Zuständen ihre schwarzen Landsleute während der Apartheid leben. Inwiefern spielte dieser Kontrast in Ihrer Familie eine Rolle?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Meine Mutter gehörte dem Roten Kreuz an und half einigen Kliniken in den riesigen schwarzen Townships. Aber dabei blieb es. Es hatte keine spürbare Auswirkung auf unseren Alltag. Ich bin zwar froh, dass sie wenigstens etwas tat, denn viele ihrer Zeitgenossinnen unternahmen überhaupt nichts. Aber mir genügte es nicht, nur hin und wieder irgendwo etwas Wohltätiges zu tun. Für mich gehört es untrennbar zusammen, was man denkt und wie man sein Leben führt, sowohl privat als auch öffentlich.
«Wie kann man angesichts solcher Verhältnisse stumm bleiben?»
Mehrere Ihrer Bücher wurden wegen Ihrer kritischen Haltung vom Apartheid-Regime zensiert. Sie engagierten sich damals auch aktiv für den Afrikanischen Nationalkongress (ANC) und werden deshalb häufig als «politische» Autorin bezeichnet. Ein Begriff, den Sie ablehnen. Waru
Für mich ist ein «politischer Autor» jemand, der aus sozialtheoretischer Sicht über Politik schreibt. Das habe ich nie getan. Ich habe hin und wieder Artikel oder Kommentare geschrieben und natürlich auch politische Positionen vertreten. Als Weisse in einem Land, in dem eine schreckliche Unterdrückung herrschte, ging das nicht anders. Wie kann man angesichts solcher Verhältnisse stumm bleiben?
Stumm sind Sie heute ebenfalls nicht. Jetzt kritisieren Sie die ANC-Regierung.
Aber ich bin längst nicht mehr so kritisch wie zu Zeiten der Apartheid. Wie könnte ich das sein.
«Wer allem zustimmt, lernt nichts und hat nichts sagen.»
Trotzdem schonen Sie die ehemaligen Freiheitskämpfer, die heute an der Macht sind, nicht. In Ihrem neuesten Roman «Keine Zeit wie diese» (2012) geht es unter anderem um den Verrat an Idealen, um Korruption und Machtmissbrauch unter Südafrikas amtierenden Präsidenten Jacob Zuma.
Natürlich übe ich in dem Buch Kritik; aber weiterhin, indem ich das Leben der Menschen erforsche. Ich bin keine Ja-Sagerin. Wer allem zustimmt, lernt nichts und hat nichts sagen. Keine Gesellschaft ist perfekt. Ich war und bin sehr glücklich darüber, dass wir die Apartheid besiegt haben und ich meinen kleinen, im Vergleich zu anderen sehr kleinen, Teil dazu beitragen konnte. Aber im Rückblick war es naiv von uns anzunehmen, dass sich nach der Apartheid alle sofort wunderbar verstehen würden, dass es keine rassistischen Vorurteile und keine Unterdrückung mehr gäbe. Wir hätten es aufgrund unserer Geschichte besser wissen müssen. Die Unterdrückung der Schwarzen hat 1652 begonnen, als die Niederländische Ostindien-Kompanie zum ersten Mal am Kap der guten Hoffnung anlegte. Danach kamen die Missionare aus allen Teilen der Welt. Im Austausch für den christlichen Glauben nahmen sie das ganze Land an sich.
Wie erinnern Sie diesen historischen Tag der ersten demokratischen Wahlen in Südafrika 1994?
Oh, ich erinnere mich noch sehr gut daran! Das Wahlbüro war nur zwei Blocks von hier in einer kleinen Kirche eingerichtet worden. Als wir die Strasse hinunterliefen konnten wir kaum glauben, dass wir tatsächlich wählen gingen, mit Menschen aller Hautfarben. Wissen Sie, die Männer, die damals hier die Wohnungen und Häuser putzten, mussten alle – ebenso wie die Häftlinge in den Gefängnissen – Hosen tragen. In dieser Uniform standen sie nun direkt neben uns in der Schlange, um das gleiche Recht auszuüben wie wir. Ihr Name wurde in die Liste eingetragen und sie gaben ihre Stimme ab. Nelson Mandela, ein aussergewöhnlicher Mensch, wurde zum Präsidenten gewählt. Es war wundervoll. Dieses Gefühl hielt eine Weile an; wenn man zum Beispiel auch vor dem Postschalter gemeinsam mit schwarzen Südafrikanern in einer Schlange stand, nicht mehr nach Hautfarben getrennt, oder im Zug nebeneinander sass. Ich denke, das ist unsere einzige Entschuldigung dafür, dass wir damals nicht an die enormen sozialen und wirtschaftlichen Probleme dachten, an denen sich ja nichts geändert hatte. Wir hatten nicht erwartet, dass all jene Menschen, die unter furchtbaren Bedingungen in den Slums hausten, so lange auf bessere Häuser warten müssten.
Kam es Ihnen damals auch nicht in den Sinn, dass es vielleicht Generationen brauchen würde, bis die rassistischen Vorurteile und Vorbehalte in den Köpfen verschwunden sind?
Das war das Irrwitzige. Wir, diejenigen, die diese Vorurteile gar nicht hatten, haben nicht daran gedacht, dass die Rassentrennung ja nicht nur in den Köpfen, sondern auch räumlich bestand. Die Kinder waren beispielsweise nie gemeinsam auf eine Schule gegangen. Durch die Tatsache, dass wir so lange in getrennten Wohnvierteln leben mussten, änderte sich daran auch erstmal nichts. Weisse Kinder gingen hier auf die Schule, schwarze dort. Unsere Idee, dass sich das alles einfach auflösen würde, war also ein Märchen. Damit müssen wir uns heute auseinandersetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass es doch noch wahr wird.
«Unsere Freiheit hängt davon ab, ob wir uns frei äussern können.»
Momentan sieht es allerdings so aus, als könnte das sehr lang dauern. Unter anderem ist die hart erkämpfte Meinungsfreiheit in Gefahr. Mit dem vom ANC lancierten «Gesetz zum Schutz staatlicher Information» könnten wichtige Informationen zensiert und korrupte Machenschaften vertuscht werden. Whistleblowern drohen harte Strafen. Erinnert Sie das an die Zensur während der Apartheid?
Es ist eine unglaubliche Rückkehr in die Vergangenheit. Für mich ist es unfassbar. Unsere Freiheit hängt davon ab, ob wir uns frei äussern können und ob wir wissen, was in unserem Land geschieht. Was die Regierung in unserem Namen tut, welche Bedürfnisse des Landes und der Bevölkerung von ihr ignoriert werden. Bedroht ist nicht nur die Pressefreiheit, was an sich schon schrecklich genug wäre, sondern jegliche Formen der Kommunikation, die ebenso zur Meinungsfreiheit gehören. Deshalb ist dieses Gesetz so gefährlich. Ich habe noch vor ein paar Tagen mit meinen Genossen darüber gesprochen. Die Bezeichnung Genosse benutze ich übrigens in ihrer ursprünglichen Bedeutung; das hat nichts damit zu tun, ob jemand Kommunist ist. Ich habe ihnen gesagt, dass wir nicht aufgeben dürfen, selbst wenn unsere Kritik und unser Protest bislang scheinbar nicht viel ausrichten konnten.
Ihr Leben ist eng, fast untrennbar, mit der Geschichte Ihrer Heimat Südafrika verbunden. Wie wollen Sie hier dereinst in Erinnerung bleiben?
Das Beste in mir, alles Erwähnenswerte steckt in meinen Büchern. Meine Erkenntnisse und mein Bestreben, das Leben zu verstehen. Was meine eigene Person betrifft, so ist es wie mit einer Blume: Man pflückt sie, die Knospe öffnet sich, sie blüht und vergeht dann langsam. Andere werden nachwachsen. Ich bin Atheistin. Aber ich hatte trotzdem ein sehr erfülltes Leben.