«Ich glaubte, ich würde meinen Mann und meinen Sohn nie wieder sehen»

Tausende Menschen fliehen derzeit aus der umkämpften Ostukraine. Ihre Berichte sind grauenhaft: Die Städte sind von der Aussenwelt abgeschnitten und stehen unter Beschuss der Armee. In den Städten terrorisieren die Separatisten die Einwohner. Zwei Betroffene berichten.

Viktoria und Maxim Matjuschenko flohen mit ihren beiden Söhnen aus der umkämpften ostukrainischen Stadt Kramatorsk nach Kiew. (Bild: Olja Nedogoda , n-ost)

Tausende Menschen fliehen derzeit aus der umkämpften Ostukraine Richtung Charkiw, Kiew und Lemberg. Ihre Berichte sind grauenhaft: Die Städte Slowjansk und Kramatorsk sind von der Aussenwelt abgeschnitten und stehen unter Beschuss der Armee. In den Städten terrorisieren die Separatisten die Einwohner.

Viktoria Matjuschenko kann sich noch genau an den 14. Mai erinnern. Die 39 Jahre alte Frau war mit ihrem jüngsten Sohn Kyrill in ihrer Wohnung in Kramatorsk, da traten Männer mit Maschinengewehren die Tür ein und stürmten die Plattenbau-Wohnung.

«Sie durchsuchten alle Zimmer und nahmen Laptop, Handys und Fotoapparat mit», berichtet Matjuschenko. Eine Stunde später kam ihr Ehemann Maxim von der Arbeit nach Hause. Die Separatisten fingen den 39-Jährigen vor dem Haus ab, zerrten ihn in ein schwarzes Auto und verschleppten ihn an einen unbekannten Ort.

Nun sitzt Matjuschenko im Büro von Vostok-SOS, einer Flüchtlingsorganisation in Kiew. Sie erzählt, wie ihre Familie im Kriegsgebiet überlebte. Im Mai hat die Armee einen kilometerweiten Ring um Slowjansk und Kramatorsk gezogen, seitdem sind die Städte von der Aussenwelt abgeschnitten. Der Verkehr und die Wasserversorgung brachen zusammen, es gibt kein Benzin mehr, Gasleitungen brennen.

«Die Menschen halten den Krieg nicht mehr aus und wollen nur noch weg.»

«Die Menschen halten den Krieg nicht mehr aus und wollen nur noch weg», sagt Natalia Udovenko, Mitarbeiterin von Vostok-SOS. Viele schlagen sich nach Charkiw oder Dnjepropetrowsk durch. Andere fliehen nach Lemberg, Poltava, Tscherkassy oder Kiew.

Über eine Hotline können Ostukrainer mit Vostok-SOS Kontakt aufnehmen. «Wir suchen dann in unserer Datenbank nach Wohnungen», sagt Udovenko. Etliche Ukrainer erklärten sich bereit, Flüchtlinge aufzunehmen und gaben ihre Adressen an Vostok-SOS weiter.

Von aussen beschiesse die ukrainische Armee die Separatisten mit Granaten und treffet dabei auch Wohnhäuser, berichtet Matjuschenko. In den Städten jagten Milizen politisch Andersdenkende. Die Rebellen, erzählt Matjuschenko weiter, hatten es nicht auf ihren Mann, sondern auf ihren ältesten Sohn Danil abgesehen.

Adressen sind kein Problem – die Rebellen kontrollieren das Einwohneramt

Der 17-Jährige demonstrierte im November am Kiewer Maidan für Europa. Auf die Internetseite VKontakte – dem russischen Facebook – stellte er Fotos von den Protesten. Jemand aus dem Bekanntenkreis verpfiff den Schüler an die Milizen. Die Rebellen kamen leicht an die Adresse der Familie, denn sie kontrollieren in Kramatorsk auch das Einwohnermeldeamt.

Zweitausend bis fünftausend Menschen haben die Ostukraine inzwischen verlassen, erklären Sozialministerium und Staatlicher Migrationsdienst in Kiew. Über Siebenhundert flohen in die russische Region Rostow, einige suchten Zuflucht auf der Krim.

Viktoria Matjuschenko kam mit ihrer Familie bei Freunden nahe Kiew unter. Nun sucht die Frau mit den blonden Haaren und dem schwarzen T-Shirt Unterstützung vom Staat. «Das ist schwierig, weil die Vertriebenen nicht als Flüchtlinge, sondern als ukrainische Bürger gelten», erklärt Aktivistin Udovenko. Vostok-SOS vermittelt deshalb Jobs, «zum Beispiel als Taxifahrer, Sprachlehrer oder Programmierer», ergänzt die 28-Jährige.

«Mein Mann wurde geschlagen und konnte kaum auf den Beinen stehen.»

Viktoria Matjuschenko sitzt in der Küche von Vostok-SOS und erinnert sich weiter. Einige Tage, nachdem ihr Mann entführt wurde, klingelte bei Matjuschenko das Telefon: Wenn sie ihren Mann lebend wiedersehen wolle, sagte eine Stimme, solle ihr Sohn Danil sich bei den Milizen in der Stadtverwaltung melden.

Also begab sich der Schüler selbst in die Hände der Aufständischen. «Ich glaubte, ich würde meinen Mann und meinen Sohn nie wieder sehen», berichtet Matjuschenko. Zufällig traf die Frau auf der Strasse einen einflussreichen Arbeitskollegen, der die Separatisten überredete, die Geiseln freizulassen. «Mein Mann wurde geschlagen und konnte kaum auf den Beinen stehen», sagt Matjuschenko, «dem Sohn aber ging es gut.»

Am nächsten Tag stiegen die Matjuschenkos in ihr Auto und flohen aus Kramatorsk. Das war gefährlich, weil das Auto an Strassensperren der Milizen hätte konfisziert werden können. Doch die vierköpfige Familie hatte Glück.

«Als wir einen Checkpoint der Armee erreichten und ich die ukrainische Flagge sah, atmete ich auf», sagt Viktoria Matjuschenko. Die nächste Herausforderung steht der Familie noch bevor: Ein neues Leben aufzubauen.

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Viele Verletzte bei neuen Kämpfen in der Ostukraine:
Bei neuen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten in der Ostukraine sind nach ukrainischen Angaben rund 30 Soldaten verletzt worden. Unweit der Stadt Lugansk hätten Separatisten in der Nacht Mörsergranaten auf Regierungseinheiten und Grenzschützer abgefeuert – mehr dazu.

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