«Ich habe das Argument von Guy Morin nie verstanden»

In Basel-Stadt gibt es neuerdings keine kantonale Anlaufstelle mehr für Menschen mit einer Behinderung. Die Streichung der Behindertenfachstelle sei leichtfertig geschehen, sagt deren langjähriger Leiter Martin Haug – und zeigt sich enttäuscht von seinem ehemaligen politischen Vorgesetzten Guy Morin.

(Bild: Nils Fisch)

In Basel-Stadt gibt es neuerdings keine kantonale Anlaufstelle mehr für Menschen mit einer Behinderung. Die Streichung der Behindertenfachstelle sei leichtfertig geschehen, sagt deren langjähriger Leiter Martin Haug – und zeigt sich enttäuscht von seinem ehemaligen politischen Vorgesetzten Guy Morin.

Zwölf Jahre hat sich Martin Haug im Namen der Basler Verwaltung für Behinderte eingesetzt. Dann kam der Schlag: mit der Sparkeule der Basler Regierung. Die «Fachstelle für die Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung» brauche es nicht mehr, fand Regierungspräsident Guy Morin. Haug wurde deswegen in Frührente geschickt. Die Behindertenorganisationen und die Betroffenen kämpften vergebens gegen den Entscheid an.

Lange hat Martin Haug schweigen müssen – auf Anweisung der Departementsleitung. Er ist enttäuscht. Vom Entscheid und von Guy Morin. Beunruhigend sei das, sagt Haug jetzt im Interview, eines Kantons wie Basel-Stadt unwürdig. Am meisten beschäftigt ihn, dass die Betroffenen, für die das tägliche Leben ohnehin schon ein Kampf sei, sich von jetzt an wieder selber in der Verwaltung gegen Benachteiligungen wehren müssten.

Herr Haug, kürzlich hat der Grosse Rat entschieden, dass die Behindertenfachstelle definitiv gestrichen wird. Wie nahe geht Ihnen der Entscheid?

Sehr nahe. Die Streichung irritiert mich als Fachperson und Staatsbürger extrem.

Was irritiert Sie – abgesehen von der persönlichen Betroffenheit?

Ein Sozialstaat muss sich für die Gleichstellung und Inklusion von Menschen einsetzen, die im Leben wegen einer Behinderung dauerhaft benachteiligt sind – und das sind immerhin 20 Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen müssen einen fachlichen Vertreter in der Verwaltung haben, der ihre Bedürfnisse einbringt und ihre Themen vorantreibt. Wenn sich aber ein Kanton, der viel Geld in die Kultur investiert, 150’000 Franken im Jahr für den sozialen Zusammenhalt und den Schutz vor Diskriminierung nicht mehr leisten will, dann beunruhigt mich das. Für mich gehört dieser Schutz auch zur Kultur: Zur Kultur der Vielfalt, der Solidarität und der Unterstützung von Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Letztlich ist die Streichung der Behindertenfachstelle aber auch der beste Beweis dafür, dass das komplexe Thema noch völlig ungenügend wahrgenommen wird – von der Politik, der Verwaltung und teilweise von den Medien.

«Zu sagen, dass alle in der Verwaltung etwas von Behinderung verstehen, ist eine Geringschätzung des Themas.»

Sonst wäre es also gar nicht so weit gekommen?

Genau. Wären das Thema und die betroffenen Menschen in Kopf und Herz präsent, dann wäre es nie zu diesem Entscheid gekommen.

Ausschlaggebend für die Streichung der Fachstelle waren schliesslich die Linken im Grossen Rat. So hatte die SP vier Absenzen an diesem Tag. Es hätte also eigentlich gereicht.

Ja, das ist schade. Ebenso bedaure ich, dass fast alle bürgerlichen Politikerinnen und Politiker an der Streichung festhielten. Behinderung betrifft schliesslich alle! 

Guy Morin begründete die Streichung der Fachstelle immer damit, dass das Verständnis für die Anliegen der Behinderten inzwischen in der Verwaltung angekommen sei. Teilen Sie diese Ansicht?

Nein. Das Thema ist sehr vielfältig, schon nur die komplexen Rechtsgrundlagen. Vor allem aber gibt es unterschiedliche Behinderungen: Es gibt Körperbehinderte, Sehbehinderte, Hörbehinderte, Menschen mit einer geistigen Behinderung und Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Somit müssen die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Betroffenen  berücksichtigt werden. Man muss also genau wissen, wie man dem einzelnen Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen schnell und konkret helfen kann. Das ist ein Handwerk. Zu sagen, dass alle in der Verwaltung davon etwas verstehen, ist eine Geringschätzung des Themas. Kommt hinzu, dass die Betroffenen eine Ansprechperson brauchen und nicht mehrere. Ich habe Herrn Morins Argument nie verstanden. Denn damit könnte man viele andere Stellen auch streichen.

«Ich habe seit vier Jahren nicht mehr persönlich mit Guy Morin gesprochen.»

Wieso?

Mit seiner Logik müsste man eigentlich die vielen Querschnittaufgaben in seinem Departement abschaffen. Ausserdem gibt es in der Verwaltung viele Interessenvertreter. Diese haben die Aufgabe, ein bestimmtes Thema zu fördern und zu unterstützen. So hat beispielsweise der Kulturbeauftragte die Aufgabe, in Basel eine vielfältige Kultur zu fördern und die Interessen der Kulturschaffenden in die Verwaltung einzubringen. Die anderen Gleichstellungsthemen im Bereich «Frau und Mann» sowie «Migration», die es schon viel länger gibt und die personell ganz anders ausgestattet sind, hätte man Herrn Morins Logik zufolge schon längst streichen müssen. Das Argument ist nicht nur falsch, es wird ja sonst auch nicht angewendet.

Wie gingen Sie mit der Streichung der Fachstelle um?

Ich war schockiert. Ich hielt so etwas in diesem Kanton für unmöglich. Doch die Solidarität der Betroffenen und ihres grossen Umfelds waren eine grosse Stütze für mich. Das war sehr bewegend.

Wie hat Morin Ihnen gegenüber die Streichung begründet?

Ich habe seit vier Jahren nicht mehr persönlich mit ihm gesprochen.

Wer teilte Ihnen den Entscheid denn mit?

In aller Knappheit Thomas Kessler, mein direkter Vorgesetzter.

Sie hatten diesbezüglich nie mit Guy Morin zu tun?

Nein.

«Von einem Vorgesetzten erwarte ich, dass er offen, achtsam und menschlich kommuniziert. Das ist in diesem Fall leider nicht geschehen.»

Das ist schwer vorstellbar, zumal der Aufschrei riesig war.

Ja, das ist sehr irritierend. Es ist absolut legitim, wenn Herr Morin mit einem Sparauftrag die Streichung diese Fachstelle ins Auge fasst. Es wäre verantwortungsvoll gewesen, wenn er sich mindestens bei der entsprechenden Fachperson, die das Thema zwölf Jahre bearbeitet hat, im Vorfeld aus erster Hand informiert hätte: Wo funktioniert es, wo nicht? Wenn ihn meine Ausführungen nicht überzeugt hätten und er entscheidet, die Fachstelle zu streichen, hätte ich das zwar bedauert, aber es wäre für mich und die Betroffenen vom Prozess her nachvollziehbar gewesen. Ich hätte es anständig gefunden, wenn er mir seine Argumente für die Streichung persönlich mitgeteilt hätte.

Wie haben Sie denn davon erfahren?

Stellungnahme Guy Morin

Die TagesWoche hat Guy Morin um eine Stellungnahme zu den von Haug geäusserten Vorwürfen gebeten. So wollten wir wissen, wieso Morin nie das Gespräch mit dem Leiter der Behindertenfachstelle gesucht habe. Guy Morin äussert sich folgendermassen zum Thema: «Personalführung findet nicht zuletzt zum Schutz des Personals nicht in den Medien statt und personelle Fragen sind aus dem selben Grunde grundsätzlich vertraulich zu behandeln. Deshalb kann ich dazu keine Stellung nehmen.»

Seine Begründungen und auch die Vorwürfe gegenüber meiner Amtsführung – etwa, dass es niemand braucht, der Konzepte schreibt –, habe ich aus den Medien erfahren. Ich habe in den vergangenen zwölf Jahren kein Konzept geschrieben. Diese sind längst geschrieben, man muss sie umsetzen. Und dafür habe ich gearbeitet. Herr Morin ist Politiker, er trifft die politischen Entscheidungen. Aber es ist auch eine Frage des Stils. Von einem Vorgesetzten erwarte ich als engagierter Mitarbeiter, dass er offen, achtsam und menschlich kommuniziert. Das ist in diesem Fall leider nicht geschehen.

Sie durften sich zwölf Monate – bis zum Ablauf Ihrer Anstellung – auch nicht öffentlich zur Streichung Ihrer Stelle äussern. War der Maulkorb für Sie nachvollziehbar?

Es ist klar, dass man sich seinem Arbeitgeber gegenüber loyal verhalten muss. Aber eine inhaltliche Diskussion hätte man führen müssen, gerade in diesem Fall, wo grundlegendes Wissen fehlt, wäre das angebracht gewesen. Für mich ist es ein Zeichen von Schwäche, vielleicht auch Angst, den Betroffenen nicht informieren zu lassen. Denn ich hätte mich sachlich zu diesem Thema geäussert. Das ist auch unsere Aufgabe. Wir sind keine Politiker, in der Verwaltung sind wir verantwortliche Fachpersonen für ein Thema. Dass ich mich nicht einbringen durfte, zeugt nicht von Dialogfähigkeit und Bereitschaft, sich mit unterschiedlichen Meinungen auseinanderzusetzen.

Sie hören sich enttäuscht an.

Ich habe kein Interesse, Herrn Morin zu attackieren. Ich finde es aber wichtig, dass man über solche Ereignisse redet. Mir geht es darum, darauf hinzuweisen, dass man mit den fragilen sozialen Themen nicht fahrlässig umgehen darf. Für die Zukunft heisst das, dass man mit verletzlichen Themen – und Behinderung ist eines davon – verantwortungsvoll und achtsam umgeht. Auch Anstand und Stil finde ich wichtig.

Worauf führen Sie es zurück, dass diese Stelle so leichtfertig abgeschafft wurde?

Unwissen. Das Thema wird einfach unterschätzt. Viele haben keine Begegnungen mit behinderten Menschen und wissen nicht, wie man ihnen auf Augenhöhe begegnet. Es ist das verletzlichste Gleichstellungsthema – und auch das persönlichste. Es geht schnell und man zählt selber zu den Betroffenen: Ein Unfall, eine psychische Erschütterung und man steht auf der anderen Seite des Lebens. Dass gerade ein Arzt kein Verständnis für dieses Thema hat, irritiert mich. Herr Morin müsste diesem Thema doch Sorge tragen. Ein gleiches Vorgehen bei der Gleichstellung von Frauen und Männern oder Migrantinnen und Migranten ist undenkbar. Es wäre nie so weit gekommen. Aber hier? Ja, wir sind das schwächste Thema. Umso bedenklicher die Entscheidung.

«Die Abschaffung der Fachstelle ist eines Kantons mit langer sozialer Tradition und gesunden finanziellen Verhältnissen unwürdig.»

Der Widerstand der Behinderten war riesig. Sogar in anderen Kantonen zeigte man sich empört über die Schliessung.

Ja, aber es hat alles nichts gebracht. Es gab keine Bereitschaft, den Entscheid nochmals zu überdenken, trotz zahlreicher Interventionen von schweizerischen Verbänden.

Wie weit ist Basel-Stadt mit der Gleichstellung von Behinderten?

Es gibt noch so viel zu tun. In keinem Lebensbereich ist die Gleichstellung umgesetzt. Wer eine Behinderung hat, muss Unglaubliches leisten, damit sie oder er ein selbstbestimmtes Leben führen kann. 60 Prozent der Gebäude sind für Rollstuhlfahrende nicht zugänglich. Es gibt in dieser Stadt viel zu wenig rollstuhlgängige Toiletten. Die Betroffenen machen ihren Tagesplan davon abhängig, ob sie irgendwo aufs WC gehen können. Niemand kann sich vorstellen, was die vielen Baustellen für die Sehbehinderten bedeuten, die ihre Wege durch die Stadt über Wochen eintrainieren müssen. Wenn man hier nicht rechtzeitig informiert, geraten die Sehbehinderten in existenzielle Notsituationen. Ich kenne Betroffene, die wegen einer Baustelle ihren Heimweg nicht mehr gefunden haben und nicht mehr wussten, wo sie sind. Das ist der Alltag der Betroffenen, neben den Schwierigkeiten in einer eigenen Wohnung zu leben oder einer herausfordernden Arbeit nachgehen zu können. Das ist die Realität.

Die Abschaffung der Fachstelle ist also ein Rückschritt?

Ja. Denn von jetzt an müssen sich die Betroffenen, für die das tägliche Leben ohnehin ein Kampf ist, wieder selber gegen Benachteiligungen wehren. Und sie haben in den verschiedenen Departementen Ansprechpersonen, die sie nicht kennen. Sie müssen sich nun den Strukturen der Verwaltung anpassen, dabei muss es umgekehrt sein. Das ist doch eines Kantons mit langer sozialer Tradition und gesunden finanziellen Verhältnissen unwürdig. Diese Rückschritte sind umso bedauerlicher, als es in diesem Thema verpflichtende Rechtsgrundlagen gibt, für die jahrelang gekämpft wurde. 

Kampf um Fachstelle geht weiter

Auch wenn der Grosse Rat sich gegen die Beibehaltung der Behindertenfachstelle ausgeprochen hat: Das neu gegründete Aktionskomitee Behindertengleichstellung will diesen Entscheid nicht hinnehmen und arbeitet darauf hin, dass die Fachstelle wieder Teil der Verwaltung wird. Im Komitee sind gemäss Mitteilung unter anderem Politiker, Ärzte und Unternehmer vertreten. Sie wollen sich bei Verwaltung und Politik «lautstark» für die Anliegen von Menschen mit einer Behinderung einsetzen und haben nun den «Stammtisch Behindertengleichstellung» ins Leben gerufen. Der Stammtisch fördert den Austausch von Menschen mit und ohne Behinderung und sammelt alle Anliegen, die «Gleichstellung und Nachteilsausgleich einfordern».

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