Für ein Theaterprojekt war Regisseurin und Schauspielerin Anina Jendreyko zwei Wochen lang in der Südtürkei. Wegen der Unruhen musste sie nun kurzfristig zurückkehren. Ein Tagebuchauszug aus ihrer Zeit im krisengeschüttelten Diyarbakir.
Diyarbakir, Sonntagmorgen, 13. September 2015
Früh wache ich auf. An die Kampfjets, die nachts und tags die Stadt überfliegen, um die Berge, in denen sich die PKK-KämpferInnen aufhalten, zu bombardieren, habe ich mich schon gewöhnt. Doch jetzt höre ich Helikopter und Schüsse, zwischendurch schwere Geschosse. Die Schüsse hören nicht auf. Die gesamte Innenstadt ist von schwer bewaffneter Polizei und Sondereinheiten umstellt: Ausgangssperre. Ohne zu fragen, haben die Sondereinsatzkräfte den Eingang und den Hinterausgang des Hotels in Beschlag genommen. Die Helikopter verheissen nichts Gutes. Aus ihnen wird geschossen.
Alt bekanntes Bild für dieses Mädchen sind die Einschüsse im Wohnhaus hinter ihr. (Bild: Anina Jendreyko)
In der Innenstadt mit ihren zahlreichen antiken Bauten leben viele Menschen, meist arme Leute, deren Dörfer – an die 5000 – in den Neunzigerjahren zerstört worden sind. Sie ist von einer Mauer umgeben mit Abschnitten, die bis zu 8000 Jahre alt sind. Im Sommer 2015 wurde sie zusammen mit den angrenzenden Gärten in die Liste des Unesco-Welterbes aufgenommen.
Schon eine Woche zuvor, am 6.September, war eine Ausgangssperre über die Innenstadt von Diyarbakir verhängt worden. Warum am Sonntag? Weil die Leute dann nicht arbeiten und unterwegs sind, um andere zu treffen?
In einigen Vierteln hat die Bevölkerung Barrikaden errichtet, um den Zugang zu erschweren und sich so vor willkürlichen Verhaftungen zu schützen.
Barrikade am Eingang zum Stadtviertel Hasirli in der Innenstadt von Diayarbakir. (Bild: Anina Jendreyko)
In Diyarbakir sind allein in den letzten eineinhalb Monaten an die 600 Mitglieder der DBP (ehemals BDP – demokratische Friedenspartei) verhaftet worden. Die DBP stellt die Bürgermeisterin und viele Mitglieder arbeiten in den kommunalen Strukturen.
Letzten Sonntag (6. September) wurde das Quartierzentrum im Viertel Hisrli vollkommen zerstört. Der für die Bevölkerung wichtige Treffpunkt ist in den letzten zehn Jahren — seit die Stadt von der kurdischen Partei BDP regiert wird — aufgebaut worden. Auf den drei Etagen befanden sich eine Gesundheitsstation, Handwerkstätten, Beratungs- und Unterrichtszimmer, eine Frauenanlauf- und eine Familienberatungsstelle, Gebetsräume, eine Kleider- und Essenssammelstelle sowie eine Volksküche für die Ärmsten. Auch Schlafräume für Besuchende und Obdachlose waren vorhanden.
Augenzeugen berichten mir, wie die türkischen Sicherheitskräfte – das berüchtigte «Özel Tim» (eine Spezialeinheit) und die Polizei – Handgranaten ins obere Stockwerk geworfen hätten, das Erdgeschoss stürmten, um sich schossen, Feuer legten und die Feuerwehr daran hinderten, es zu löschen. Das Zentrum sei vollkommen ausgebrannt, alles, restlos alles, Lebensmittel, Medikamente, Webstühle, Behandlungsräume etc. seien zerstört.
Auch in das benachbarte Waschhaus der Frauen, den grossen Kindergarten und das Bildungszentrum war die Polizei eingedrungen und hatte alles kurz und klein geschlagen, aber keinen Brand gelegt.
Das ausgebrannte Quartierzentrum im Hasirli Mahallesi. (Bild: Anina Jendreyko)
Gezielt geht die türkische Regierung mit Verhaftungen und Zerstörung gegen die kommunalen kurdischen Strukturen vor. Betroffen sind alle Städte im Südosten des Landes, in denen die DBP die Kommunalwahlen 2014 gewonnen hatte, insgesamt sind es fast 100 Städte und Gemeinden, darunter Diyarbakir.
Ich muss das Fenster schliessen. Tränengas dringt ein. Noch mehr Helikopter am Himmel. Hinter der nächsten Häuserreihe höre ich Schüsse im Minutentakt, in zwei Stunden zähle ich 672. Geschosse richten sich immer gegen Menschen, denke ich. So viele Schüsse, so viele Detonationen.
«Ich muss das Fenster schliessen, Tränengas dringt ein. Hinter der nächsten Häuserreihe höre ich Schüsse im Minutentakt, in zwei Stunden zähle ich 672.»
Allein in Diyarbakir gab es seit dem 10. September vier Tote und unzählige Verletzte. In vielen Vierteln der Stadt – wie in vielen anderen Städten der Türkei, sowohl im Westen wie im Osten – kam es zu Sitzstreiks und Protesten gegen die Ausgangssperre und die neuntägige Abschottung der kurdischen Stadt Cizre. Die Sicherheitskräfte gehen häufig mit Tränengas gegen die Sitzstreikenden vor, aber nicht nur. Samstag in der Früh wurde eine 17-jährige Frau erschossen, die sich an den Protesten beteiligte: Kopfschuss.
Eine 23-jährige Frau wurde aus der Untersuchungshaft mit Spuren von Folter und sexueller Misshandlung ins Krankenhaus gebracht. Ich befand mich im Büro der HDP als die Nachricht und die Fotos eintrafen. Es war verboten, die Frau zu besuchen, und das Krankenhaus wird von der Polizei bewacht, doch dem Krankenhauspersonal war es gelungen, Bilder und Informationen nach draussen zu schaffen. Sonntagmorgen wurde die Frau wieder ins Gefängnis überführt. Das Krankenhaus hatte lediglich lebensrettende Massnahmen durchführen können.
Gemäss dem Menschenrechtsverein IHD werden fast alle Verhafteten gefoltert. Auffallend ist, so der IHD, dass während der Untersuchungshaft besonders hart gegen Frauen vorgegangen wird. Sexuelle Misshandlungen, Schläge und Knochenbrüche sind an der Tagesordnung. Der Verhaftungsgrund lautet immer gleich: Unterstützung oder Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung. Auch die verhafteten Mitglieder der DBP werden dessen bezichtigt.
Militär auf dem Hügel – auf dem eine neue Kaserne gebaut werden soll – in der Nähe von Lice. (Bild: Anina Jendreyko)
In Lice, einer Provinzstadt des Bezirkes Diyarbakir, in deren Umgebung es vor drei Wochen zu heftigen Gefechten zwischen PKK und Militär gekommen war, haben die Einwohner der umliegenden Dörfer zwischen zwei Hügeln ein Lager errichtet. Ihre Aktion richtet sich gegen den Krieg, sie stellen sich als Menschenschutzschild zwischen die Guerilla und das Militär. Dabei werden sie von den EinwohnerInnen der umliegenden Kreisstädte unterstützt.
Am 12. September war ich dort und führte mehrere Interviews. Die Gegend steht unter Naturschutz und ist voller antiker Bauten. Eine davon befindet sich auf dem Berg, auf dem sich das Militär eingerichtet hat, um eine Kaserne zu errichten. Dagegen protestierten die Leute aus dem Lager mit einem Protestzug. Rund 1700 Menschen, Jung und Alt, beteiligten sich.
Protestmarsch gegen den Bau der Militärkaserne. (Bild: Anina Jendreyko)
Mehrere Abgeordnete der HDP waren dabei, um eine Mitteilung zu verlesen und sie den Soldaten zu übergeben. Ältere Frauen des Protestzuges sagten: «Nein, auf uns werden sie nicht schiessen. Wir wollen mit ihnen reden, wir wollen Frieden. Jede Kugel – egal von welcher Seite – ist eine zu viel.»
«Die Soldaten schossen Tränengas in die Menge und feuerten erneut mit Panzern über unsere Köpfe hinweg.»
Kaum hatte der Protestzug die Strasse verlassen und war auf den Feldweg, der zum Hügel hinauf führt, eingebogen, begann das Militär mit Panzern zu schiessen. Links und rechts des Zuges schlugen die Geschosse ein. Wir liefen weiter. Als die ersten in Sichtweite der Soldaten gelangten, schossen diese Tränengas in die Menge und feuerten erneut mit Panzern über unsere Köpfe hinweg. Die Menschen brachen in Panik aus und rannten den Berg hinab: acht Verletzte, zwei davon schwer.
Eine 56-jährige Teilnehmerin am Protestzug sagte mir in einem Interview: «Ich habe in diesem Krieg zwei Kinder verloren. Niemand soll mehr sterben, weder Guerilla noch Soldat oder Polizist. Es muss endlich aufhören. Erdogan will diesen Krieg, wir wollen ihn nicht. Der Frieden war so nah. Nun werden wir alle als Terroristen beschimpft. Die Welt muss etwas unternehmen, Erdogan muss gestoppt werden. Es ist genug, genug, genug! Wir werden eine weitere Eskalation nicht akzeptieren, deshalb sind wir hier und wenn wir dabei sterben. Es muss endlich Schluss sein mit dem Krieg, der Friedensprozess muss wieder aufgenommen werden.»
Teilnehmerinnen am Protestzug. (Bild: Anina Jendreyko)
Die offiziellen Erklärungen der Regierung sind immer die gleichen: Alle, die in irgendeiner Art mit der HDP sympathisieren, sind Terroristen. Am 10. September sagte der Premierminister der Türkei Ahmet Davutoglu in einer Ansprache: «In Cizre sind keine Zivilisten gestorben, nur Terroristen.» Von den 23 Toten in der umkämpften Stadt Cizre sind zehn Kinder unter 12 Jahren, das jüngste Opfer ist 35 Tage alt, vier Mütter, ältere Männer, der älteste 80 Jahre alt.
Die gleichen Verlautbarungen wird es bei Belagerungen und Ausgangssperren der Innenstadt von Diyarbakir sowie anderer Städte der Südosttürkei geben.
«Von den 23 Toten in der umkämpften Stadt Cizre sind zehn Kinder unter 12 Jahren, das jüngste Opfer ist 35 Tage alt.»
Am 14. September, nach der Aufhebung der Ausgangssperre in Diyarbakir, liess die türkische Regierung weitere gewählte Vertreter der HDP festnehmen, unter ihnen war auch der populäre ehemalige Bürgermeister von Diyarbakir Abdullah Demirbas. Er und andere hatten sich gegen die täglichen Festnahmen kurdischer Jugendlicher gewandt.
Demirbas sass schon einmal mehrere Jahre im Gefängnis, weil er sich für den Gebrauch der kurdischen Sprache eingesetzt hatte. Während seiner Amtszeit als Bürgermeister engagierte er sich für die Rechte der Minderheiten in der Stadt. Gegen die Widerstände der regierenden AKP von Präsident Erdogan liess er sowohl eine armenische als auch eine syrisch-orthodoxe Kirche restaurieren. 2007 wurde er zum ersten Mal seines Amts enthoben, weil er in öffentlichen Angelegenheiten Kurdisch gesprochen hatte.
Nach seiner Wiederwahl 2009 strebten türkische Behörden ein erneutes Verfahren gegen ihn an. Zwei Monate nach seinem Amtsantritt wurde er wegen «sprachlicher Verbrechen» zu zwei Jahren Haft verurteilt. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes wurde er vorzeitig entlassen, was die Polizei jedoch nicht daran hinderte, ihn jetzt erneut festzunehmen und damit die Spannungen in der Stadt weiter zu schüren.
Die Verhaftung von Demirbas trifft nicht nur die Kurdinnen, sondern auch Assyrer, Aramäer, Chaldäer, Yeziden und Armenier in der Südosttürkei.
Am 13. September wurde die armenische Kirche in Diayarbakir von der Polizei heftig beschossen, Inschriften und restaurierte alte Objekte wurden zerstört. (Eine Randbemerkung: In den Direktübertragungen im Fernsehen sah ich Polizisten und Sonderkräfte, die nachts die belagerte Stadt Cizre unter Beschuss nahmen. Sie riefen immer wieder: «Die Armenier werden sich freuen. Ihr seid alle Armenier und werdet das Gleiche erleben wie eure Vorfahren.»)
Blick von der Stadtmauer auf die Gärten, die auf die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurden. (Bild: Anina Jendreyko)
Gegen Nachmittag kommen wir mit einer Sondergenehmigung aus dem Hotel raus, aber sicher nicht mehr rein. Über die Strasse , überall Spezialeinheiten, das Maschinengewehr im Anschlag. Äussert unangenehm. Presseleute werden verhaftet , in Untersuchungshaft gesteckt und dann direkt des Landes verwiesen, so in der letzten Woch eine holländische Journalistin, zwei Briten und ein deutscher Fotograf.
Zweimal traf ich den Co-Vorsitzenden der HDP und ehemaligen Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins von Diyarbakir, Selahattin Demirtas. Einmal während einer Pressekonferenz am 9. September, bevor er nach Cizre aufbrach. Die Delegation von 40 HDP-Abgeordneten und zwei Ministern (in der jetzigen Übergangsregierung bis zu den Neuwahlen stellt die HDP zwei Minister in der türkischen Regierung) wurde 90 Kilometer vor Cizre vom Militär gestoppt. Darauf entschieden sie sich zu Fuss weiterzulaufen – einem Friedensmarsch gleich.
Aus allen Himmelsrichtungen setzten sich spontan Menschen Richtung Cizre entgegen. Einige Kilometer vor Cizre wurde der Zug gestoppt. Das zweite Mal traf ich Demirtas am 13. September bei einer Pressekonferenz in Diyarbakir vor den Toren der abgeriegelten Innenstadt.
In all seinen Reden forderte Demirtas die Rückkehr an den Verhandlungstisch «und wenn wir hunderte von Tagen brauchen, um eine Lösung zu finden, dann brauchen wir eben so lange. Aber es ist der einzige Weg, der zu Frieden und einem gewaltlosen Miteinander führt – und für dieses Miteinander sind wir zu Wahlen angetreten (im Juni, 13 Prozent der Stimmen bekommen) und an dieses Miteinander glauben wir!» Er ruft sowohl die kurdische PKK als auch die türkische Regierung dazu auf, die Gewalt zu beenden und die Friedensverhandlungen sofort wieder aufzunehmen.
Mitten unter den Menschen, die grosse Hoffnung in ihn setzen: Selahattin Demirtas. (Bild: Anina Jendreyko)
Während Demirtas und mit ihm die HDP für Frieden, Verständnis und Toleranz einstehen, nimmt die rassistische Hetze, die von der regierenden AKP und ihren Anhängern über Fernsehkanäle und Presse ins Land getragen wird, täglich zu. Selbst Journalisten sowie das Verlagshaus von Medien wie Hürriyet, Nokta und Cumhuriyet, die der kemalistischen und als sozialdemokratisch bezeichneten Partei CHP nahestehen, werden nicht verschont. (Die CHP ging als zweitstärkste Partei aus den Wahlen vom 7. Juni 2015 hervor.)
Die Übergriffe des rechtsnationalen Mobs im Westen der Türkei gegen kurdische Einrichtungen wie HDP-Büros, kurdische und fortschrittliche Buchläden sowie Zentren gehören mittlerweile zur Tagesordnung.
Und trotzdem: Viele Menschen, mit denen ich in den letzten Wochen gesprochen habe, lassen sich von dieser rassistischen Hetze weder beeindrucken noch zu Gegenreaktionen hinreissen. Immer wieder hörte ich: «Erdogan möchte, dass es keine Versöhnung gibt. Wir wollen in Frieden leben, denn egal ob Kurde, Türke, Sunnit, Alevit, Yezide oder Assyrer, wir sind Geschwister.»