«Ich vermisse eine wirtschaftsethische Debatte»

Unia-Gewerkschafterin Corinne Schärer und Nationalrat Eric Nussbaumer haben nicht nur gute ökonomische Gründe für die Mindestlohn-Initiative. Ein Doppel-Interview.

Redet Klartext: SP-Nationalrat Eric Nussbaumer.

Unia-Gewerkschafterin Corinne Schärer und Nationalrat Eric Nussbaumer haben nicht nur gute ökonomische Gründe für die Mindestlohn-Initiative. Ein Doppel-Interview.

Neun Prozent der Arbeitnehmenden in der Schweiz verdienen weniger als 4000 Franken im Monat. Was würde sich für diese 330’000 Personen konkret verbessern, wenn die Mindestlohn-Initiative angenommen würde?

Corinne Schärer*: Sehr viele Leute, insbesondere Frauen, könnten besser leben. Sie müssten nicht mehr jeden Franken umdrehen. In der Schweiz reichen auch 4000 Franken nur knapp, betrachtet man die Kosten für Wohnungsmiete, Krankenkassenprämien, Essen und Kleider. Verdient man weniger, geht das Geld vor Monatsende aus, wie mir Betroffene immer wieder erzählen.

Eric Nussbaumer**: Die reale Verbesserung von der ökonomischen Lebenssituation vieler Arbeitnehmenden ist wichtig. Aber es geht auch noch um etwas anderes: um ein öffentliches Signal gegen die Verteilungsungerechtigkeit in der Schweiz. Wir alle bekommen mit, wie Wirtschaft heute funktioniert: Oben wird genommen. Dagegen fehlt die Bereitschaft, das Einkommen unten auf ein anständiges Niveau zu heben. Die Stimmenden könnten sich mit einem Ja zur Initiative für die gesellschaftliche Anerkennung dieser Menschen am unteren Rand aussprechen. Wenn Politik sich wirklich um das Gemeinwohl kümmert, muss sie die Kraft aufbringen, die massiv angestiegene Ungerechtigkeit zu korrigieren.

Schärer: Es gibt hier voll arbeitende Menschen, die auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Das ist eine unwürdige Situation für ein so wohlhabendes europäisches Land wie die Schweiz.

Warum haben die Gewerkschaften den Mindestlohn genau auf 4000 Franken festgelegt?

Schärer: Wir wollten einen Wert, der zu spürbaren Verbesserungen führt und gleichzeitig wirtschaftlich realistisch ist. Ein Mindestlohn von 4000 Franken kostet gerade nur ein zusätzliches halbes Lohnprozent Interessant ist: Seit wir 4000 als Mindestlohn definiert haben, orientieren sich viele Arbeitgeber daran. Sogar der Discounter Lidl verkündete stolz, dass er nun den Mindestlohn zahle. Auch H&M wird auf den 1. Januar 2015 den Mindestlohn einführen. Das zeigt: 4000 Franken scheinen eine akzeptable Grösse zu sein.

Herr Nussbaumer, Arbeitgeberverbände, economiesuisse und KMU-Verbände bekämpfen die Mindestlohn-Initiative mit dem Argument, bei einem Ja gingen Arbeitsplätze verloren.

Nussbaumer: Das ideologische Argument des Arbeitsplatzverlustes steht zu Fakten in keinem Verhältnis. In der Gastronomie zum Beispiel würde der Mindestlohn zu Lohnsummensteigerung von 1,5 Prozent führen. Das ist wenig und fällt unternehmerisch betrachtet nicht ins Gewicht. Argumentiert man aus unternehmerischer Sicht, kann man keinen Arbeitsplatzverlust voraussagen. Das ist eine rein ideologische Argumentation: Der Staat schreibt etwas vor, und allein deshalb ist es schon falsch. Neoliberal betrachtet schaden ein «Lohndiktat» und andere staatliche Vorschriften der Wirtschaft, Punkt. Dabei geht es aber nicht um Fakten und um reale Lebensverhältnisse der Betroffenen.

Sie sind ja auch Unternehmer.

Nussbaumer: Meine Erfahrung zeigt: Ob ein Unternehmen 3800 oder 4100 Franken Lohn zahlt, entscheidet nicht über seinen Erfolg oder Misserfolg. Letztlich ist es die Leistung, die alle Beteiligten gemeinsam erbringen, die ein Unternehmen erfolgreich macht, und nicht die etwas tieferen Lohnausgaben.

Frau Schärer, was sagen Sie zum Argument, Arbeitsplätze gingen verloren?

Schärer: Wir kennen die Angstmacherei, die Leute würden Jobs verlieren. Dasselbe hat man schon in den 1990er-Jahren gesagt, als wir die Kampagne «Kein Lohn unter 3000» führten. Die Kampagne war sehr erfolgreich, die Löhne wurden seither substanziell angehoben. Im Gastgewerbe sind sie in den letzten 12 Jahren um 1000 Franken gestiegen. Ausserdem betrifft der Mindestlohn grösstenteils Dienstleistungsberufe wie Verkauf, Gastgewerbe, Reinigung, Coiffeusen. Diese Arbeitsplätze kann man nicht einfach auslagern. Wer steht am Abend an der Kasse, wenn wir noch rasch einkaufen wollen? Wer sonst schneidet uns die Haare? Die Kosten für die Konsumenten würden nur minim steigen. Wir haben ausgerechnet, dass im Gastgewerbe in Saisonbetrieben ein Kaffee dadurch höchstens 10 Rappen teurer würde.

Nussbaumer: Ich vermisse eine wirtschaftsethische Debatte in den verantwortlichen Unternehmerkreisen. Es ist erstaunlich, dass niemand darüber nachdenkt, wie man ein Unternehmen führen und dabei seinen Mitarbeitern ein Leben in Würde ermöglichen kann. Wirtschaftskreise predigen zwar die Sozialpartnerschaft, aber immer mit dem Hintergedanken, die Löhne unter 4000 Franken zu drücken zu dürfen.

«Es ist erstaunlich, dass niemand darüber nachdenkt, wie man ein Unternehmen führen und dabei seinen Mitarbeitern ein Leben in Würde ermöglichen kann.»


SP-Nationalrat Eric Nussbaumer

Sind Mindestlöhne ein geeignetes Mittel, um mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen?

Nussbaumer: Über andere Mittel haben wir schon diskutiert – über eine Begrenzung der Lohnspanne bei der 1:12-Initiative sowie der obersten Löhne bei der Abzockerinitiative. Nun geht es um das 1 von 1:12. Eine vernetzte globale Wirtschaftsweise ist heute Realität und hat zu einer wachsenden Ungleichheit geführt. Nun stellt sich die Frage: Wie können wir in einem globalisierten Umfeld eine faire Weltwirtschaft bauen? Wie können Menschen frei und würdig ihr Leben gestalten, egal, wo sie leben und ihre Leistung erbringen? Der Mindestlohn ist eine mögliche Antwort darauf. Unverständlich, dass die Wirtschaftsverbände das nicht sehen und nur das Kapital hofieren.

Schärer: Es herrschen zum Teil krasse Zustände in der Schweiz. Im Kanton Thurgau werden zum Beispiel beim Kaffeemaschinen-Hersteller Frismag und Eugster AG Löhne von 2600 und 3000 Franken bezahlt. Gesamtarbeitsverträge (GAV) sind ein wichtiges Instrument, aber es gibt sie nicht in allen Branchen. Im Verkauf weigern sich die Arbeitgeber, mit der Unia einen GAV abzuschliessen. Alarmierend sind die Verhältnisse besonders im Kleider- und Schuhdetailhandel. Modeketten sind oft im Besitz von reichsten Familien zum Beispiel Zara oder Bata. Gleichzeitig müssen die Verkäuferinnen zu tiefsten Löhnen arbeiten. So verdienen bei Tally Weijl Verkäuferinnen trotz zweijähriger Lehre nur 3470 Franken. Dieser Misstand ist nicht akzeptabel.

«Tally-Weijl–Verkäuferinnen verdienen trotz zweijähriger Lehre nur 3470 Franken. Dieser Misstand ist nicht akzeptabel.»


Unia-Gewerkschafterin Corinne Schärer

Nussbaumer: In globalisierten Firmen klafft die Lohnspanne übrigens viel extremer auseinander. Bei den meisten Schweizer KMUs, gerade auch bei handwerklichen Firmen, ist die Lohnungleichheit gar nicht so dramatisch. Aber trotzdem kämpfen KMU-Vertreter wie Löwen dafür, die unteren Löhne drücken zu dürfen, nur aus Prinzip.

Was ist ein anständiger Lohn?

Schärer: Wer in der Schweiz voll arbeitet, soll von seinem Lohn leben können. Die Leistung der Arbeitskraft und deren Gegenleistung müssen im Gleichgewicht sein. 4000 Franken sind immer noch nicht viel.

Nussbaumer: Es geht um den Grundsatz: Schluss mit dem Drücken nach unten. Die Lohnfrage ist eine der Frage des sozialen Ausgleichs. Sie schliesst andere sozialpolitische Massnahmen nicht aus. Die Verbilligung von Krankenkassenprämien oder anderes Prämiensystem sind genauso wichtige Forderungen. Die Lage von nicht privilegierten Menschen können wir selten nur mit einer Massnahme verbessern. Doch in der Schweiz geraten sozialpolitische Errungenschaften immer mehr unter Druck mit dem Argument, sie würden unseren Wohlstand gefährden. Dabei stabilisieren diese Errungenschaften den Wohlstand.

Die Gewerkschaften kritisieren die Ungleichheit zwischen Männer und Frauen bei den Löhnen. Kann der Mindestlohn die Geschlechterdiskriminierung direkt bekämpfen?

Schärer: Der Mindestlohn wäre ein Riesenfortschritt – das bisher grösste Lohnanpassungsprogramm für Frauen. In der Schweiz wird der Verfassungsgrundsatz – gleicher Lohn für gleiche Arbeit – nicht umgesetzt. Das ist ein Skandal! Insgesamt betragen die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern bei gleicher Arbeit in der Schweiz rund einen Fünftel. Im Verkauf bekommen die Frauen sogar fast einen Viertel weniger. Im Dienstleistungsbereich arbeiten zwei von drei Frauen zu Löhnen unter 4000 Franken. Wenn man dort den Lohn erhöhen könnte, führt das zu einer Verbesserung der Gleichstellung. Für Frauen, egal aus welchem politischen Lager, gibt es keinen Grund, gegen die Mindestlohninitiative zu stimmen.

«Wer in der Schweiz voll arbeitet, soll von seinem Lohn leben können.»


Corinne Schärer

Herr Nussbaumer, welches ist Ihre Motivation als Unternehmer, jetzt schon einen «anständigen» Lohn auszurichten?

Nussbaumer: Letztlich hat es mit dem Menschenbild zu tun. Ich entlöhne Menschen, die mithelfen, einen unternehmerischen Erfolg zu erreichen. Das hat eine sinnstiftende Dimension. Mein Grundverständnis ist das der Zusammenarbeit: Jede Funktion im Betrieb trägt dazu bei, dass wir Ende Jahr gemeinsam etwas erreichen. Indem man die Lohnspanne so eng wie möglich behält, bringt man Anerkennung zum Ausdruck. Ist diese Anerkennung nicht spürbar, dann wird die Menschenwürde der Mitarbeiter nicht ernst genommen. Natürlich misst sich Anerkennung nicht nur über das Portemonnaie. Aber wenn Angestellte nach Hause gehen und nicht wissen, wie sie ihre Teenager-Kinder durch die Ausbildung bringen sollen, verletzt das ihre Würde.

Schärer: Ich verstehe nicht, dass jene Arbeitgeber, die eine vernünftige Lohnpolitik betreiben, sich nicht gegen diese globalisierte Ausbeutungspolitik wehren. Die Schweiz hat ihren wirtschaftlichen Erfolg nicht durch Abzockerei und ausländische CEOs erreicht, sondern mit den Arbeitnehmenden hier, dank einer vernünftigen Wirtschaftspolitik und der Sozialpartnerschaft.

«Wenn Angestellte nach Hause gehen und nicht wissen, wie sie ihre Teenager-Kinder durch die Ausbildung bringen sollen, verletzt das ihre Würde.»

Eric Nussbaumer

Herr Nussbaumer, Sie engagieren sich in der Evangelisch-Methodistischen Kirche. Welchen Einfluss hat Ihre christliche Überzeugung auf die Mindestlohn-Frage?

Nussbaumer: Mein Menschenbild und die Art, wie ich eine Frage zu beantworten versuche, haben selbstverständlich mit meinen christlichen Werten zu tun. Mir ist die befreiende Dimension der christlichen Tradition wichtig. Sie will ermöglichen, dass Menschen Sinnhaftigkeit finden und frei entscheiden können. Ich wehre mich dagegen, dass Menschen an den Rand gedrängt werden und ich bin nicht an der Moralinspritze eines falsch verstandenen Christentums interessiert.

Schärer: Ich bin mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit aufgewachsen, es seit meiner Kindheit eine zentrale Frage für mich. Darum ist mein Engagement ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit und mehr als irgendein Job.

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*Corinne Schärer, Historikerin und Lehrerin, arbeitet seit 1994 für Gewerkschaften, seit 2009 bei der Unia, seit 2012 als Geschäftsleitungsmitglied. Ein besonderes Anliegen ist ihr die Gleichstellung.

**Eric Nussbaumer, Elektroingenieur, Sozialunternehmer, seit 2007 SP-Nationalrat BL. Er ist unter anderem Verwaltungsratspräsident der Alternativen Bank.

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