Die Kurden im Nordosten Syriens bauen an einer Demokratie. Ob das Vorhaben gelingen kann, hängt nicht zuletzt vom Ausgang des Machtkampfs zwischen dem syrischen Regime und den Rebellen ab.
Die Fahrt ins grosse Glück führt durch die Finsternis. Der weissen Limousine mit den Blumen auf der Kühlerhaube folgen zwanzig Autos oder mehr. Blinkend und hupend fährt der Tross durch die Stadt, deren Stille sonst einzig das Brummen der Dieselgeneratoren durchbricht. Wenige Kilometer von hier, draussen bei den Arabern, ist Krieg. Die Kurden von Afrin aber feiern den Bund fürs Leben. Hochzeit um Hochzeit.
Es herrschen Ungewissheit und Angst in Afrin, diesem kurdischen Zipfel, der rund 60 Kilometer nördlich von Aleppo in die Türkei hineinragt. Kurdische Milizionäre sorgen bisher zwar dafür, dass der Krieg draussen bleibt. Doch die Wirtschaft liegt am Boden, seit der Handel mit dem übrigen Syrien zusammengebrochen ist. Und niemand weiss, was auf die Ruhe im Auge des syrischen Orkans folgen wird.
«Weiche, Feind»
Gefeiert wird trotzdem. Die Hochzeitsgesellschaft verliert sich in der viel zu grossen Halle, die Band plärrt mit 150 Dezibel. «Schicksal, warum nimmst du mir meine Freunde?», singt der Zeremonienmeister. «Ich bin erst 14 und sehe aus wie ein alter Mann.» Er singt nicht von der Ehe. Er singt vom Krieg, den sein Volk seit Jahrzehnten führt.
Auch der kleine Junge hatte vom Krieg gesungen. Oben, wo der Stausee zwischen den gelben Hügeln liegt, wo Zwölfjährige auf Motorrädern durch Dörfer aus Staub holpern, ihre Grossmütter hinter sich auf dem Sattel. «Weiche, Feind», hatte er gesungen, «das kurdische Volk wird niemals schwach sein.»
Der eine Feind ist bereits gewichen. Die Truppen und Sicherheitskräfte der syrischen Regierung sind in den vergangenen Monaten aus Afrin und den anderen kurdischen Gebieten weiter im Nordosten Syriens abgezogen. Neben der Strasse zum Staudamm ragt ein grosses Blech aus dem gelben Sandboden. Früher blickte von hier Bashar al-Assad über den See auf die Olivenhaine am anderen Ufer. Nun ist sein überdimensionales Bildnis verschwunden, die nackte Metalltafel reflektiert den roten Feuerball am Horizont. Als wollte sie sagen: Willkommen in Rojava, dem Land der untergehenden Sonne. Willkommen in Westkurdistan.
«Apo» lächelt von jeder Wand
Der langgezogene Stausee liefert das Wasser für die rund 180’000 Menschen in der Stadt Afrin und dem gleichnamigen Distrikt. Und wie an allen wichtigen Orten – auf Bäckereien, in den Büros politischer Institutionen, in Gerichten, auf dem Postbüro – wehen hier seit dem Abzug des Regimes die Fahnen der Partiya Yekitîa Demokrat (PYD), der syrischen Schwester der Kurdischen Arbeiterpartei PKK.
«In ganz Syrien herrscht Krieg. Wir aber haben Sicherheit und Ruhe. Wir haben die PKK», sagt ein Ladenbesitzer in der Stadt. An jeder Ecke ist das Graffito aus zweimal drei Buchstaben zu sehen: Apo und PKK. Abdullah Öcalan, genannt «Apo», der Onkel, lächelt in Afrin von jeder Wand. Das Konterfei des in der Türkei inhaftierten PKK-Führers hat die Porträts von Bashar al-Assad ersetzt.
Die PYD ist die neue starke Kraft in Westkurdistan (siehe Box). «Wir wollen dem kurdischen Volk zu seinem Recht verhelfen», sagt Atuf Abdo, Präsident des Bezirksparlaments von Afrin, das die Bevölkerung vor Kurzem gewählt hat. Er beschreibt die Politik der PYD als «dritten Weg. Wir kämpfen weder gegen die Rebellen noch gegen die Regierung.» Das Regime müsse fallen, macht er klar. Die Kurden aber sollten sich aus dem Konflikt raushalten. Diese Haltung setzt die PYD dem Verdacht aus, mit Assad unter einer Decke zu stecken.
Bauen an der Demokratie
Das Regime zog ohne grossen Widerstand ab, die Kurden haben im ganzen Land neue Institutionen gebildet und alte von der Regierung übernommen. Quartierräte organisieren Strassenreinigungstrupps und beschaffen Gas zum Heizen und Kochen. Von Volksversammlungen eingesetzte Gerichte schlichten Streitereien zwischen Eheleuten und Nachbarn. In jeder Stadt und jedem Bezirk gibt es gewählte Parlamente und regierende Komitees. «Wir bauen an einer echten Demokratie», sagt Politiker Atuf Abdo. «Wir setzen die Vision unseres Führers Abdullah Öcalan um.»
In einem ehemaligen Regierungsgebäude im Zentrum von Afrin ist das Haus der Märtyrer entstanden. «In diesen Mauern schlägt das Herz des kurdischen Volkes», sagt ein Mann im olivgrünen Overall unter dem Bild seiner Tochter. An den Wänden eines grossen Saales hängen Hunderte Fotos jener Söhne und Töchter der Stadt, die ihr Leben im jahrzehntelangen Kampf der PKK gegen die türkische Armee gelassen haben. Und es ist noch Platz für jene, die bald auf syrischem Boden fallen könnten.
Die Ruhe in Westkurdistan ist brüchig. In den letzten Wochen hat sich eine neue Front aufgetan, die den Beginn eines echten Bürgerkrieges markieren könnte. Immer häufiger kämpfen die kurdischen Volksschutzeinheiten YPG, die als bewaffneter Arm der PYD gelten, gegen die Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA). Erst vor wenigen Tagen starben Dutzende Kurden und Rebellen, nachdem zwei FSA-Brigaden die Stadt Ras al-Ain gestürmt hatten. Die türkische Armee soll die arabisch-sunnitisch dominierte FSA dabei mit Artillerie unterstützt haben.
Auch über den Checkpoints um Afrin wehen die roten YPG-Wimpel mit dem goldenen Stern. Mit Kalaschnikows und schweren Maschinengewehren kontrollieren die Einheiten den Zugang zur Stadt und ihrer Umgebung.
Eine «Armee aus dem Volk»
Ein Hüne mit grauem Haar und Händen wie Baggerschaufeln, Kampfname Bahoz, der Tornado, ist einer von vier Kommandeuren der YPG in Afrin. Die Beretta in seinem Hosenbund kommt zum Vorschein, als er das Hemd hochzieht. Die vernarbten Schusswunden erzählen von einem Leben für die kurdische Sache. Zehn Kugeln hat er abbekommen: neun in den irakischen Kandilbergen, wo er 13 Jahre lang mit der PKK kämpfte, und eine vor wenigen Monaten hier in Afrin, als er und seine Männer die letzten Reste von Assads Sicherheitskräften vertrieben.
Über die Truppenstärke der YPG schweigt sich Bahoz aus. Nur so viel: «In jedem kurdischen Haus findest du mindestens einen YPG-Kämpfer. Wir sind eine Armee aus dem Volk und für das Volk.» Rund 600 junge Männer und Frauen würden derzeit allein in der Region Afrin in den Trainingslagern der YPG ausgebildet. Und auch in ihren Hochburgen weiter im Osten Syriens rüsten die Kurden auf. Der Norden des Iraks spielt dabei eine zentrale Rolle. Masud Barzani, Präsident der dortigen Autonomen Region Kurdistan, hat bestätigt, dass er kurdische Flüchtlinge aus Syrien militärisch ausbildet.
«Sie wollen uns auslöschen»
«Für Muslimbrüder und Salafisten stehen wir auf derselben Stufe wie die Juden», sagt Ahmed. «Sie wollen uns auslöschen.» Der 21-Jährige hat die Repression von Assads Sicherheitsapparat bereits voll zu spüren bekommen. Kurz vor Ausbruch der die Revolution hatte ihn ein Mitstudent verraten. Sein Vergehen: Er hatte kurdische Lieder von seinem Handy abgespielt. Die Polizei beschuldigte Ahmed, sich an einer Verschwörung zu beteiligen. «Sie verhörten und schlugen mich», erzählt er. Nur dank Schmiergeld kam er frei.
Zurück in Afrin, liess er das harte Training der YPG über sich ergehen. Ahmed weiss jetzt alles über die verschiedenen Modelle der AK-47, und mit der Doshka, dem schweren Maschinengewehr, «treffe ich auf 300 Meter ins Schwarze», lächelt er stolz. Dann wird er ernst: «Krieg ist nichts, was man wollen kann. Aber wenn es sein muss, werde ich mein Leben geben für das kurdische Volk.»
Nach Ausbruch des Aufstandes in Syrien haben sich die zerstrittenen Kurdenparteien auf eine Koalition geeinigt. Die PYD einerseits und rund 15 kleinere, im Kurdischen Nationalrat KNC vereinigte Parteien regeln seit dem Abzug des Regimes die Angelegenheiten auf allen Ebenen. Hinter vorgehaltener Hand beklagen Vertreter des KNC jedoch die Dominanz der PYD, die als einzige Partei bewaffnet ist.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12