Im Basler Hafen liegen Milliarden

Kluger Rat, Notvorrat: Für den Fall plötzlicher Importengpässe lagern im Basler Hafen zigtausend Tonnen wichtiger Waren.

Sollten für ein Weilchen reichen: Die im Hafen gelagerten Mengen an Notvorräten im Grössenverhältnis zum Basler Münster. (Bild: Lukas Gloor / replikant.ch)

Kluger Rat, Notvorrat: Für den Fall plötzlicher Importengpässe lagern im Basler Hafen zigtausend Tonnen wichtiger Waren.

Ohne Importe geht nichts in der Schweiz. Über 100 000 Tonnen Rohstoffe, Energieträger, Lebens- und Futtermittel sowie industrielle Halb- und Fertigprodukte werden täglich eingeführt. Um gegen plötzliche Engpässe gewappnet zu sein, sind grosse Importeure verpflichtet, Pflichtlager aufzubauen und zu bewirtschaften. Der Marktwert aller Pflichtlager­waren beträgt derzeit rund fünf Milliarden Franken.

Riesige Notvorratslager liegen im Basler Hafen, bei der Rhenus Port ­Logistics, dem grössten Schweizer Pflichtlagerhalter für Nahrungs­mittel. André Erismann, Assistent der Geschäftsleitung von Rhenus, taucht tief in seine Datenbanken ein und pflückt eine Zahl heraus: Allein in ­Basel lagert die Firma 70 000 Tonnen Getreide als Pflichtlagerbestände im Kundenauftrag.

Beste Lage

«Der Hauptanteil ist Weizen, dazu­ kommen Mais, Sojaschrot, Bruchreis, Gerste und Eiweiss­erbsen», sagt Erismann, und sein Chef Bruno Imhof ergänzt: «Wegen unserer Lage hier am Rhein sind wir fast von selbst zum grössten Pflicht­lagerhalter der Schweiz geworden. Ein Zwischen­umschlag würde manchem Importeur die Marge aufzehren. Darum lassen viele die Pflichtlagerware gleich hier am Hafen.»

Wegen der Kokurrenz lässt sich der Leiter der Rhenus Port Logistics nur ungern weitere konkrete Zahlen entlocken: «Unsere Getreide- und Futter­mittelsilos haben eine Kapazität von rund 170’000 Tonnen und sind etwa zu 80 Prozent gefüllt.» Knapp die Hälfte der Bestände, die Rhenus in Basel im Kundenauftrag vorhält, sind Pflichtlager. Und der Wert der gelagerten Güter ist immens, wie Imhof vorrechnet: «Eine Tonne Sojaschrot kostet rund 545 Euro, Mais 243 Euro, Weizen 278 Euro. Allein der Warenwert des Weizens in den Pflichtlagern beträgt 15 Millionen Euro.»

Lange Tradition

Die Pflichtlagerhaltung hat eine lange Tradition. 1892 kaufte die eid­genös­sische Militärverwaltung erstmals Ge­treidebestände auf, um die «Ernährung der Zivilbevölkerung im Krieg» zu garantieren. Daraus hat sich ein riesiger staatlicher Logistikapparat entwickelt – mit etwas Getreide gibt man sich heute nicht mehr zufrieden.

In den modernen Lagern werden Treib- und Brennstoffe für vier bis fünf Monate, Nahrungsmittel wie ­Getreide, Zucker, Speiseöl und -fett, Kaffee und Reis für drei bis vier Monate, Heilmittel (Antibiotika für Human- und Veterinärmedizin) für vier bis acht Monate und Dünger für «einen Drittel des Bedarfs für eine Vegetationsperiode» gehortet. Dazu kommen sogenannt freiwillige Pflichtlager, etwa Kunststoffgranulate, PET-Rohlinge oder Grundstoffe für die Hefeproduktion, damit im Notfall niemand auf sein Brot verzichten muss.

20 Franken pro Kopf und Jahr

Während des Kalten Krieges musste in den Pflichtlagern noch der Bedarf von acht bis zwölf Monaten gedeckt werden. «Nach dem Fall der Berliner Mauer wurden die Pflicht­lager massiv reduziert», erläutert Beat Rosser, ­Bereichsleiter Pflichtlager und Organisation bei Réservesuisse, die im Auftrag des Bundesamts für wirt­schaftliche Landesversorgung (BWL) die Nahrungsmittelpflichtlager betreut.

Die Kosten für die Lagerung werden auf die Verkaufspreise auf­geschlagen. Beim Benzin zum Beispiel bezahlen wir etwa einen halben Rappen pro Liter zusätzlich. Insgesamt, so rechnet das BWL vor, geben wir pro Kopf und Jahr weniger als 20 Franken für Pflichtlagerbestände aus.

Der Bund überwacht die Pflicht­­lager und erleichtert ihre Finanzierung durch Bankgarantien. Im Falle eines Versorgungsengpasses kann der Bund anordnen, Bestände in den Verkauf zu bringen. Freiwillig ist die Teilnahme am System nicht. Jeder grössere Importeur ist verpflichtet, sich zu beteiligen. Rund 300 Unternehmen­ haben mit dem BWL Pflichtlagerverträge abgeschlossen und dafür Dar­lehen in der Höhe von rund 326 Millionen Franken aufgenommen. Dazu kommen bilanzwirksame Abschreibungen.

Dicke Geschäfte

Bruno Imhof bekommt das in den Jahren, in denen die Pflichtlager­bestände neu ausgeschrieben werden, zu spüren: «Dann wird importiert wie wild. Das Ganze lohnt sich für gewisse Firmen enorm. Gerade bei Mineralöl. Das ist in der Branche jeweils ein Riesenthema.»

Imhof ist für die Qualität der Lagerbestände verantwortlich. Die Unternehmen, für die er die Lager führt, sind dafür verantwortlich, das Getreide in den Verkauf zu bringen, bevor es an Qualität verliert. Im Schnitt liegt die Ware fünf Jahre im Pflichtlager, bevor sie erneuert wird. Der älteste Bestand besteht aus Sojaschrot aus dem Jahr 2005.

Krabbeln erzeugt Wärme

Ihre Pflichtvorräte lagert die Rhenus Port Logistics grundsätzlich in Betonlagern. Diese sind tem­peratur­beständiger als die grossen Stahl­silos. Werden die Bestände trotzdem warm, ist das ein schlechtes Zeichen: «Wenn wir plötzlich 30 Grad im Sojaschrot haben, deutet das auf einen Schädlingsbefall hin. Dann fragen wir den Kunden, ob er die Ware sofort umschlagen will oder ob wir sie be­gasen sollen.»

Ungeziefer fürchtet Severin Plüss, Geschäftsführer der Rhytank AG im Basler Hafen, nicht. Bei ihm liegen ­gewaltige Treibstoff-Pflichtlager­be­stände­. Da Treibstoffe sehr qualitätsstabil sind, können sie fast unbegrenzt liegen. Nur das Flugbenzin wird alle drei Jahre erneuert.

«Bei etwa 70 Prozent unserer Bestände handelt es sich um Pflichtlager», sagt Plüss, was eher wenig sei. «Im Raum Basel gibt es Tankraum von rund einer Million Kubikmeter. Die dürften derzeit etwa zu 70 bis 80 Prozent gefüllt sein, durchschnittlich 80 Prozent davon sind Pflichtlagerbestände.» Als im November 2010 wegen eines Streiks in Frankreich kein Kerosin mehr über die Pipeline ins Land kam, wurden die Treibstoffe für den Flughafen Genf aus Pflichtlagern bezogen.

Engpass-anfällige Pharmaindustrie

Letztmals angezapft werden mussten die Pflichtlager im Sommer 2012. Damals wurde ein Antibiotikum freigegeben. «Ein Anbieter musste die Produktion eines bestimmten Antibiotikums einstellen, dadurch konnte dieses nicht mehr in der benötigten Menge importiert werden», berichtet Lucio Gastaldi, Chef der Sektion Pflichtlager beim BWL. «Da die Produktionsstätten­ der Pharmaindustrie zunehmend an wenigen Standorten konzentriert sind, kann ein Produktionsausfall schnell zu Engpässen führen.»

Nahrungsmittel dagegen wurden letztmals 1974 aus Pflichtlagern entnommen. Mitte der 1970er-Jahre war das Zuckerangebot auf dem Weltmarkt so knapp geworden, dass der Bund eine vorübergehende Herabsetzung der Zuckerpflichtlager genehmigte.

Was wird eigentlich aus Imhofs Pflichtlagern, wenn der Basler Hafen dereinst zu einem Wohngebiet umgebaut wird und auf der Rheininsel Wohnhäuser stehen werden? «Dann wird der Güterumschlag am Ostquai sicher massiv erschwert», sagt der Chef der Rhenus Port Logistics. «Wenn im Hafen gearbeitet wird, geht es natürlich laut zu und her. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Reklamationen der neuen Bewohner den Umschlag verhindern würden.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.01.13

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