Im Kampf für den Frieden setzt Kiew auf Wände

Das Kiewer Stadtbild verändert sich. Drei Jahre nach der «Revolution der Würde» dominiert das Gedenken an den Maidan den öffentlichen Raum in der ukrainischen Hauptstadt. Patriotische Graffitis boomen und werden gefördert, zugleich werden Sowjetsymbole verbannt. Ein Besuch.

Gegen den Krieg und für die Veränderung. Der Maidan-Aufstand hat der Kunst in Kiew einen Schub verliehen.

(Bild: Simone Brunner)

Das Kiewer Stadtbild verändert sich. Drei Jahre nach der «Revolution der Würde» dominiert das Gedenken an den Maidan den öffentlichen Raum in der ukrainischen Hauptstadt. Patriotische Graffitis boomen und werden gefördert, zugleich werden Sowjetsymbole verbannt. Ein Besuch.

Schwalben, die ineinander verwoben sind. Manche steigen auf, manche stürzen ab. Sie trotzen Wind und Wetter, doch selbst der raue Gegenwind kann sie nicht aufhalten. «Die Schwalben stehen für die Veränderungen in unserem Land», erklärt Oleg Sosnow. Sie schimmern blau und gelb, in den Farben der ukrainischen Flagge. «Das soll zeigen, dass es möglich ist, in unserem Land etwas zu verändern.» Mühsam, aber möglich.

Selbst heute, einem Sonntag, donnern die Autos über die achtspurige Strasse, vorbei an Ausfahrtsschildern und grauen Plattenbauten. Es ist eines der sichtbarsten Wandmalereien, die Oleg Sosnow kuratiert hat. Er rechnet vor: 10’000 Autos kommen hier täglich vorbei. Mehr als drei Millionen Blickkontakte jedes Jahr. Der Ort könnte nicht symbolischer sein: Es ist die Westeinfahrt von Kiew, die Strasse, die weiter nach Warschau führt. In den Westen. In die EU.

Am 18. Februar jährt sich der Jahrestag des Maidan zum dritten Mal. Nachdem sich der Präsident Viktor Janukowitsch im November 2013 geweigert hatte, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, gingen tausende Ukrainer in Kiew und im ganzen Land auf die Strasse. Am Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem «Maidan», bauten sie Zelte und Barrikaden auf. Als die Proteste im Februar 2014 unter massiver Polizeigewalt eskalierten, floh der Präsident aus dem Land. Die «Revolution der Würde», wie der Maidan unter Anhängern genannt wurde, hatte gesiegt.

Die Barrikaden und Zelte sind inzwischen längst abgebaut. Doch immer noch säumen Fotos der Todesopfer, der «Himmlischen Hundertschaft», die Instituzkaja-Strasse, auf der in den blutigen Februartagen besonders viele Menschen starben. Passanten legen Rosen vor Kreuzen nieder. Doch auch abseits des Maidan ist die Erinnerung an den Maidan allgegenwärtig: Nach der «Revolution der Würde» sind in der ganzen Stadt patriotische Bilder aus dem Boden geschossen. Konterfeis der Opfer der «Himmlischen Hundertschaft.» Verspielte Hommagen an den Freiheitskampf. Patriotisches Pathos in Blau-Gelb.

Als «ehrliches Geschenk an die Menschen» bezeichnet das Oleg Sosnow. Der Kunstkritiker hat selbst 30 Wandmalereien in der Hauptstadt kuratiert – freilich nicht in nächtlichen Guerilla-Aktionen, sondern mit dem Segen des Bürgermeisters Witali Klitschko. Jedes Projekt musste einzeln in der Stadtverwaltung eingereicht werden. Während die Finanzierung von privaten Mäzenen oder Spenden kommt, wird die Wandmalerei dennoch von der Verwaltung unterstützt. Sie stellt Schulen, Krankenhäuser oder auch kommunale Wohnblocks zur Verfügung. «Legalen Neo-Muralismus» nennt das Sosnow.

Es ist nicht die einzige derartige Initiative in Kiew. «Heute ist der Kampf für den Frieden wieder aktuell», heisst es etwa auf der Website von «ArtUnitedUs», einem Kollektiv aus Künstlern und Beamten, das ebenfalls Dutzende Graffitis in Kiew organisiert hat. Dabei solle «durch künstlerische und kreative Medien mit Kommunen kooperiert werden, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem von Krieg, Aggression und Gewalt» zu lenken, heisst es auf der Website. «Die Wände sind unsere Waffe», sagt der Mitgründer Geo Leros zur TagesWoche. 200 Wände sollen in den nächsten Jahren in Kiew und in der Ukraine bemalt werden.

Aber auch abseits der Hauswände hat das Patriotische, der ukrainische Nationalstolz, in Kiew seinen Siegeszug angetreten. Im September hat auf der Prachtstrasse des Kreschatik, der besten Adresse Kiews unweit des Maidan, das Modegeschäft «Wsi Swoi» (deutsch: «Unter uns») eröffnet.

Auf drei Etagen wird hier Mode von ukrainischen Designern angeboten. Wyschywanka, die folkloristischen ukrainischen Bauernhemden, für 2000 bis 5000 Hrywnja (rund 75 bis 185 Franken). Für Mode-Geeks gibt es den Mantel der westukrainischen Volksgruppe der Huzulen, mit dem langen, zotteligen Schafsfell, für 430 Franken.

Dass ukrainische Marken im Aufwind sind, hat zwei Gründe, erklärt die Gründerin Anna Lukowina: Einerseits sind mit dem Währungsverlust der Hrywnja ausländische Marken für viele Ukrainer schlichtweg unerschwinglich geworden.

«Der Boom der Ethno-Kleidung ist aber sicher auch Folge der stärkeren nationalen Identifikation der Ukrainer nach dem Maidan», sagt Lukowkina, «die Menschen haben angefangen, ihre Traditionen stärker zu schätzen und nach ihren Wurzeln zu suchen.» Ein Boom ukrainischer Designer war die Folge. Zuletzt hat sogar das Modemagazin «Vogue» Kiew zu einer der besten Shopping-Städte gekürt.

Das Gedenken an die jüngere Geschichte der Ukraine ist da freilich schwieriger. Nur wenige Meter weiter ist der Boulevard «Taras Schewtschenko». Dort, wo früher eine Lenin-Statue über den Beginn des Kreschatik wachte, steht heute ein leerer Sockel.




Lenin ist gewichen, aber auch wenn keine neue Statute steht, sind neue Götzen an seine Stelle getreten. (Bild: Simone Brunner)

Auf dem dunklen Granit des Sockels prangt ein Gedicht von Taras Schewtschenko, dem ukrainischen Nationaldichter. In den ersten Tagen der Maidan-Proteste wurde die Statue gestürzt. Die landesweiten Proteste brachten in der Folge viele weitere Lenin-Statuen zu Fall – der sogenannte «Leninopad».

Mittlerweile ist die Säuberung von Sowjetsymbolen in der Ukraine zur Staatsdoktrin geworden. Das Gesetz «über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen (nazistischen) totalitären Regime» trat 2015 in Kraft, wonach sowjetische Symbole aus dem öffentlichen Raum entfernt sowie kommunistische Strassen- und Stadtnamen geändert werden müssen.

Dass die Revolution des Maidan neue Mythen, Ikonen und Götzen hervorgebracht hat, will derweil auch Oleg selbst nicht verhehlen. «Positive Propaganda», nennt er seine Wandmalerei-Projekte, die er gemeinsam mit internationalen Künstlern realisiert hat. Wie zuletzt das Bild an der Hauswand eines Plattenbaus, an der Ostausfahrt, Richtung Flughafen. Eine Frau, die sich aus dem grauen Tümpel erhebt, und den Kopf zu einem bunten Blumenstrauss hebt. Die Ukraine zwischen gestern und morgen, sagt Oleg. Die versucht, ihre «sowjetischen Phantome» abzustreifen.

Mit dem Sowjetkult sei das freilich nicht zu vergleichen. Im Gegenteil, sagt Oleg: «Das Wichtigste ist, dass sich die Leute vorstellen können, dass Veränderungen zum Besseren möglich sind.» Denn genau das sei ein Bruch mit der post-sowjetischen Passivität, der Einstellung, dass sich der Staat um alles kümmern müsse, sagt Oleg.

Aber die erzieherische Rolle der Kunst, die im Dienste einer Idee steht, ist zurück.

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