«Im Stadion sitzt nur die Oberschicht, die anderen können sich keine Tickets leisten»

Die WM in Brasilien verläuft reibungslos. Im Interview erklärt der Anthropologe Martin Curi von der Universität Rio de Janeiro, warum es allenfalls Mini-Demonstrationen gibt – trotz enormer Unzufriedenheit im Land.

«Vier Gründe gibt es für die fehlenden Grossdemos», sagt Martin Curi. Im Interview erklärt der Anthropologe welche. Er lehrt an der Universität Rio de Janeiro und lebt seit 12 Jahren in Brasilien.

Die WM in Brasilien verläuft reibungslos. Im Interview erklärt der Anthropologe Martin Curi von der Universität Rio de Janeiro, warum es allenfalls Mini-Demonstrationen gibt – trotz enormer Unzufriedenheit im Land.

Herr Curi, im vergangenen Jahr haben Proteste gegen Fifa und Politik für Aufsehen gesorgt. Nun, bei der WM, gibt es allenfalls noch Mini-Demos mit etwa 300 Teilnehmern wie jüngst in São Paulo. Haben Sie eine Erklärung?

Martin Curi: Vier Gründe. Zum einen wollen die Brasilianer jetzt schlichtweg Fussball sehen und ihrer Mannschaft die Daumen drücken. Zum anderen gibt es seit den Massenprotesten beim Confed Cup keinen neuen Anlass. Die Probleme im Bildungssystem und Gesundheitswesen sind einfach die gleichen geblieben, das hat zur Ermüdung geführt. Und viele Demonstranten haben den Eindruck, dass ihre Anliegen von der Opposition instrumentalisiert werden.

Wie das?

Für die bürgerliche Opposition war die WM der willkommene Anlass, die Staatspräsidentin zu attackieren. Dilma Roussefff hat wie ihr Vorgänger Lula einiges für die unteren Bevölkerungsschichten getan und viele, die 2013 demonstriert haben, wollen zwar, dass die Demokratisierung noch schneller vonstatten geht. Sie wollen aber auf keinen Fall, dass die PT, Roussefffs Partei, die nächsten Wahlen verliert und wieder die Oberschicht-Parteien an die Macht kommen.

Beim Eröffnungsspiel gab es allerdings laute Pfiffe gegen Rousseff…

Das passt doch bestens ins Bild. Rousseff hat im ganzen Land doppelt so hohe Beliebtheitswerte wie der beliebteste Oppositionspolitiker. Von den Menschen, die die Spiele in den Kneipen oder an den Strassengrills anschauen, hätte kaum jemand gepfiffen. Die können sich aber die Tickets für die Spiele nicht leisten.

Ist das auch der Grund, warum in brasilianischen Medien über die Stimmung geklagt wird: Viele ausländische Fans seien lauter als 60’000 Brasilianer.

Natürlich. Die Brasilianer, die Sie im Stadion sehen, sind Angehörige der oberen Mittel- und der Oberschicht. Das sind nicht die Leute, die im Alltag in die Stadien gehen und ihre Lieblingsmannschaft anfeuern.

«Die Brasilianer im Stadion gehen im Alltag nicht in die Stadien und feuern ihre Lieblingsmannschaft an.»

Sie erwähnte vorhin noch einen vierten Grund.

Viele Menschen gehen nicht mehr auf die Strasse, weil sie Angst vor der Polizei haben. Und die ist leider gerechtfertigt: Es gab schliesslich im vergangenen Jahr nicht eine Demonstration, die nicht in Polizeigewalt geendet hätte. Der Fall von Amarildo Souza ging damals ja auch in Europa durch die Presse: Ihn hatte die Polizei als Anführer einer Protestdemo ausgemacht, woraufhin er bei einer Razzia in seiner Favela Rocinha mitgenommen wurde. Seither ist er nicht mehr aufgetaucht. Sprich: Er ist ermordet worden.

Aber warum verteidigt die Polizei eine Regierung, die sich Demokratisierung auf die Fahnen geschrieben hat?

Man hat den Eindruck, dass die Polizei ein Eigenleben führt, auf das die Politik nicht unmittelbar Zugriff hat. Militär und Polizei schützen hier seit Jahrhunderten die Elite. Auch das war ja ein Grund, warum die Leute auf die Strasse gegangen sind: Brasilien ist ein tolles Land, aber Korruption und Polizeiwillkür müssten dringend angegangen werden.

In Ihrem Buch «Land des Fussballs» beschreiben Sie eindrücklich, wie fussballverrückt Brasilien ist. Und auch als WM-Tourist ist man beeindruckt, wie gebannt die Menschen vom Fussball sind. Ist die Kritik an den teuren Investitionen denn wirklich so verbreitet?

Das eine schliesst das andere ja nicht aus. Dieser Tage wird ihnen fast jeder Brasilianer sagen, wie glücklich er über die WM ist und wie toll es wäre, wenn Brasilien Weltmeister im eigenen Land wird. Doch dann kommt die Feststellung, dass man all die Milliarden anderswo dringender gebraucht hätte.

_
Mehr zum Thema in unserem Dossier WM 2014

Nächster Artikel