Immer diese Bergler

Nach verlorenen Abstimmungen wird gerne zur Grundsatzdebatte über das politische System gerufen. Und schnell merkt man: So schlecht haben wir es eigentlich nicht.

So schlecht haben die Gründerväter der Eidgenossenschaft das System gar nicht erdacht: Der erste Bundesrat der Schweiz im Jahre 1848. (Bild: Keystone)

Nach verlorenen Abstimmungen wird gerne zur Grundsatzdebatte über das politische System gerufen. Und schnell merkt man: So schlecht haben wir es eigentlich nicht.

Wie fragil es tatsächlich um den nationalen Zusammenhalt bestellt ist, sieht man nicht nur jedesmal, wenn ein Spieler des FC Basels im Trikot der Nationalmannschaft in irgendeinem zweitklassigen Stadion der Restschweiz ab der zweiten misslungenen Ballberührung gnadenlos ausgepfiffen wird; nein, auch nationale Abstimmungen bieten immer wieder hervorragende Anschauungsbespiele dafür, dass die Schweiz nicht unbedingt eine Willens-, sondern vielleicht eher doch eine Müssensnation ist.

Bei der Ausschaffungsinitiative diktierten die kleinen Kantone mit wenigen Ausländern den grossen Kantonen mit den vielen Ausländern, dass man diese nicht mehr zu wollen habe. Bei der Buchpreisbindung überstimmte die Deutschweiz (nicht zum ersten Mal) kollektiv die Romandie und jetzt, gerade aktuell, schreien die Bergler «Knechtschaft!» und «Unterdrückung!», nachdem die Städter und Bewohner der Agglomeration die unverbaute Aussicht von der Terrasse ihrer Zweitwohnung im Oberland in der Verfassung verankert haben.

Lustige Ideen

Die neue Dimension im aktuellen Fall ist die Vehemenz, mit der die Bergkantone ihre Niederlage beklagen. Statt als gute Verlierer die verlorene Abstimmung sein zu lassen, versuchen sie nun die grosse Systemdiskussion zu lancieren. CVP-Präsident Christoph Darbellay, ein Walliser, will das Ständemehr stärken; CVP-Nationalrat Gerhard Pfister, ein Zuger, hatte die Idee dazu. Via «Zentralschweiz am Sonntag» lancierte er die Idee einer «Sperrminorität». Würden sechs kleine Kantone eine Vorlage mit über 66 Prozent der Stimmen ablehnen, wäre die Abstimmung gemäss seinen Vorstellungen bereits verloren.

«Mir geht es darum, kleinere Kantone zu stärken», sagte Pfister der Zeitung und forderte damit den Widerstand der grossen Kantone heraus. Alexander Tschäppät etwa, Berner Stadtpräsident und für die SP im Na­tionalrat, will ziemlich genau das Gegenteil. Er fordert schon lange zehn Ständeratssitze für die grossen Städte. Und jetzt, da die Bergkantone reklamieren, wiederholt er es gerne. «Wir können nur vorwärtskommen, wenn wir unsere Strukturen neu denken», sagt er der TagesWoche, «wir brauchen neue und viel grössere Kantone!» Nur so bekämen die ständig von den Bergkantonen überstimmten urbanen Räume mehr Gewicht.

Mahner aus den Bergen

Die Debatte konnte sich gar nicht richtig entfalten, da meldeten sich bereits besänftigende Stimmen aus ungewohnten Regionen. Andrea Masüger, CEO der Südostschweiz Medien, warnte in einem bemerkenswerten Kommentar vor einem «Sonderbund der Klageweiber». Erstens würden die wirtschaftlich wenig potenten Bergkantone seit Jahr und Tag von den Ausgleichszahlungen der Stadtkantone profitieren, und zweitens seien diese Bergkantone bei Abstimmungen viel häufiger auf der Gewinnerseite als umgekehrt.

Der von Masüger beschriebene Ausgleich, das Rücksichtnehmen auf Minderheiten, ist denn auch das Fundament des gesamten Bundesstaats. Bemerkenswert an der Entstehungsgeschichte der Verfassung von 1848 sind nicht die blutigen Auseinandersetzungen und die religiösen Händel; bemerkenswert ist, wie gross die Rücksichtnahme der städtisch dominierten Siegerkantone gegenüber den ländlich dominierten Verliererkantonen war.

Bemerkenswert ist weiter, wie selten das daraus resultierende Ständemehr der kleinen Kantone das Volksmehr der grossen Kantone tatsächlich überstimmte. Bei den 175 Volksinitiativen seit 1848 bestand nur elf Mal ein Konflikt zwischen Stände- und Volksmehr, wie ein Blick in die Datenbank «Swissvotes» zeigt. Auch Politologe Adrian Vatter stellt in einer Studie aus dem Jahr 2010 fest, dass die Schweizer Mehrheit tendenziell Rücksicht auf die Schweizer Minderheit nimmt (weniger auf die ausländische Minderheit, aber das ist ein anderes Thema).

Das wissen auch jene, die im Nachgang der aktuellen Abstimmung am lautesten geschrieen haben. Gegenüber der TagesWoche sagt etwa Gerhard Pfister, dass es ihm nicht darum gegangen sei, Gräben aufzureissen, sondern auf die grundsätzliche Problematik aufmerksam zu machen. Nach den vehementen Einwänden gegen seine Idee, die er durchaus begreifen könne, verzichte er auf einen Vorstoss: «Er wäre chancenlos.»

Besinnung auf das Alte

Auch Alexander Tschäppät plant nicht eine politische Initiative, um den Städten und der Agglomeration mehr Gewicht zu verschaffen. «Das wäre nicht realistisch.» Pfister und Tschäppät wissen beide um die Unmöglichkeit des grossen Systemumbaus. Nicht nur, weil zur Abschaffung des Ständemehrs das Ständemehr nötig ist, sondern schlicht auch weil die Schweiz mit ihrem System des Ausgleichs nicht so schlecht gefahren ist.

Und so einigt sich unser Land nach einem kurzen Wutausbruch darauf, dass es die Landesväter und -mütter, die vor über 150 Jahren ihren Kompromiss blutig ausfochten, es vielleicht doch nicht so schlecht gemacht haben.
Jedenfalls bis zur nächsten Abstimmung. Oder bis zum nächsten Ballverlust eines FCB-Spielers in Diensten des Nationalteams in irgendeinem zweitklassigen Stadion der Restschweiz.

Quellen

Kommentar von Andrea Masüger in der Südostschweiz

Zusammenfassung der Idee von Gerhard Pfister auf dem Internetportal innerschweizonline.ch

Statistik aller Abstimmungen auf Swissvotes

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.03.12

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