Mit gegen 200 Toten ereignete sich diese Woche die schlimmste Flüchtlingstragödie vor der ägyptischen Küste. Die EU möchte mit Ägypten und anderen Ländern Nordafrikas ein Abkommen nach türkischem Vorbild schliessen. Dafür ist sie bereit, Milliarden an Hilfen zu gewähren.
Niemand weiss genau, wie viele Menschen am Mittwoch auf dem vor der Küste von Rashid gekenterten Schiff zusammengepfercht waren. Während die ägyptischen Behörden von 400 Personen sprechen, nannte Überlebende Zahlen von bis zu 550. Die Rettungskräfte konnten bis Freitag 163 Leichen bergen und 170 Personen, davon 117 Ägypter, sicher an Land bringen. Dutzende bleiben vermisst.
Neben Ägyptern waren vor allem Sudanesen, Eritreer und Äthiopier auf dem überfüllten Boot. Vier Mitglieder der Besatzung wurden in Polizeigewahrsam genommen.
Es ist die bisher schlimmste Tragödie auf der Passage zwischen Ägypten und Italien. Diese Fluchtroute ist ein seit Jahren etablierter Weg, auch wenn nach wie vor zehn mal mehr Flüchtlinge den Weg über Libyen nehmen. In den vergangenen Monaten ist der Strom auf dieser langen, gefährlichen und teuren Überfahrt allerdings deutlich angeschwollen.
Viele ägyptische Fischer haben umgesattelt und sind mit ihren Holzbooten Teil des Schleusernetzwerkes geworden.
Nach Angaben aus Rom sind auf diesem Weg in diesem Jahr bereits 12’000 Menschen nach Italien gelangt, 70 Prozent von ihnen stammen aus Ländern Schwarzafrikas. Wie erwartet, hat die Blockade der Balkanroute den Druck auf andere Reisewege erhöht. Hinzu kommt aber auch die sich verschärfende Wirtschaftskrise in Ägypten, insbesondere in der Fischereiindustrie, wo Zehntausende ihren Arbeitsplatz verloren haben. Viele haben umgesattelt und sind mit ihren Holzbooten Teil des Schleusernetzwerkes geworden.
Auf dem gekenterten Boot waren aussergewöhnlich viele Ägypter und besonders viele Jugendliche. Das ist ein neues Phänomen. Weil Erwachsene aus Italien – dem gelobten Land der Ägypter – zurückgeführt werden, machen sich immer mehr Teenager auf den Weg. Dabei können sie auf ein ganzes Netzwerk von Schleusern und Helfern bauen. Für Jugendliche gelten in Italien spezielle Regeln. Sie dürfen im Land bleiben und dort eine Schule oder Ausbildung zu Ende machen.
Ägypten als Modell?
Nach den neusten Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in diesem Jahr bisher 300’000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gelangt. 3501 haben diesen Traum mit ihrem Leben bezahlt.
Die Befürchtung, dass nach der Schliessung der Balkanroute andere Wege stärker frequentiert werden, hat die EU auf die Idee gebracht, mit den Ländern Nordafrikas ähnliche Abkommen zu schliessen wie mit der Türkei. Die EU-Aussenbeauftragte Frederica Mogherini sprach als Gegenleistung von finanziellen Hilfen in der Höhe von acht Milliarden Euro. Am Rande des UN-Flüchtlingsgipfels diese Woche in New York haben Vertreter mehrerer europäischer Länder diese Idee unterstützt. Dabei tauchte auch der Vorschlag von Lagern ausserhalb von Europa auf.
Da es in Libyen, wo bei weitem am meisten Flüchtlinge herkommen, wegen der chaotischen, bürgerkriegsähnlichen Zustände keine Ansprechpartner gibt, könnte ein erster Versuch mit Ägypten gestartet werden.
Unklare Rechtslage
Indirekt hat sich vor der UNO auch Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi zu diesen Vorschlägen geäussert. Er erklärte, seine Regierung sei entschlossen, die Migration von Nordafrika nach Europa einzudämmen. Dabei hat er auf internationale Zusammenarbeit gepocht. Man arbeite daran, den Flüchtlingen anständige Bedingungen zu bieten, ohne sie in Camps zu isolieren.
Ein Gesetz gegen illegale Migration, dessen Text noch nicht bekannt ist, soll in den nächsten Wochen in Kairo vors Parlament kommen. Damit würden erstmals Schlepper kriminalisiert. Die rechtliche Lage von illegalen Migranten, die bei Fluchtversuchen aufgegriffen werden, ist derzeit unklar. Einmal werden sie kriminalisiert, ein anderes Mal «nur» in administrative Haft überstellt, bis sie in ihre Heimatländer abgeschoben werden können.
Schlepper bleiben unbehelligt
Die ägyptische Marine hat in den vergangenen Monaten ihre Patrouillen entlang der Küste massiv verstärkt und mehrere Fluchtversuche vereitelt. Gegen die Schleppernetze hingegen wurde bisher wenig unternommen. Kairo möchte von der EU finanzielle und logistische Unterstützung, um den Küstenschutz zu verbessern. Politische Forderungen wie etwa Visafreiheit sind dagegen nicht im Gespräch.
Derzeit werden nur drei Prozent der Aufwendungen für die 200’000 im Nilland registrierten Flüchtlinge abgegolten. Tatsächlich ist ihre Zahl viel höher. Präsident Sisi sprach sogar von fünf Millionen, was von internationalen Organisationen allerdings angezweifelt wird. Sie leben nicht in Lagern sondern als «urban refugees» in den Städten und schlagen sich zum grössten Teil selbst durch.
Nur wenige von ihnen machen sich auf den gefährlichen Weg nach Europa, für den Schleuser mindestens 3000 Dollar pro Kopf verlangen. Sollten sich allerdings die wirtschaftlichen Bedingungen weiter verschlechtern oder die Ausländerfeindlichkeit zunehmen, könnte sich das ändern.