In der Türkei liest der Staat bald mit Erlaubnis die E-Mails der Bürger

Wer hat mit wem gechattet? Welche Internetseiten angeklickt? Wonach bei Google gesucht? Der türkische Geheimdienst MIT wird das Surfverhalten der Bürger bald lückenlos verfolgen können. Es fehlt nur noch die Unterschrift vom Präsidenten – und Tayyip Erdogan hasst das Internet.

Der türkische Premierminister Tayyip Erdogan steht mit dem Internet auf Kriegsfuss. (Bild: UMIT BEKTAS)

Wer hat mit wem gechattet? Wem eine E-Mail geschickt, und welchen Inhalts? Welche Internetseiten angeklickt? Wonach bei Google gesucht? Der türkische Geheimdienst MIT wird das Surfverhalten der Bürger bald lückenlos verfolgen können. Mit einem neuen Gesetz wird die ohnehin strikte Internetkontrolle in der Türkei weiter verschärft. Kritiker sehen das Land auf dem Weg in den totalitären Überwachungsstaat.

Das grosse Gesetzespaket war eigentlich bereits geschnürt, da schob die islamisch-konservative Regierungspartei AKP am späten Montagabend überraschend noch ein paar Paragrafen nach. Sie betreffen die Kontrolle des Internets.

Danach kann die Telekom-Aufsichtsbehörde TIB künftig ohne Gerichtsbeschluss Internetseiten sperren, um die «nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung zu schützen» oder eine «Straftat zu verhindern». Während bisher die Internetprovider verpflichtet waren, alle Verbindungsdaten ihrer Kunden zu speichern und auf Verlangen der TIB auszuhändigen, kann die Behörde künftig die Daten direkt und in eigener Regie speichern und auswerten.

Erdogan: Aufsichtsbehörde ist überflüssig, der Geheimdienst kann das auch

Besondere Brisanz bekommt das Gesetz vor dem Hintergrund, dass die neuen Befugnisse der Telekom-Behörde schon bald auf den Geheimdienst MIT übergehen könnten: Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte im Juli, damals noch als Premierminister, angekündigt, die Telekom-Aufsichtsbehörde TIB sei überflüssig und werde im Geheimdienst MIT aufgehen.

Mit der Gesetzesänderung versuche die Regierung, «die komplette Kontrolle über die sozialen Netzwerke zu erlangen», sagte Erdal Aksünger, ein Abgeordneter der Oppositionspartei CHP, der regierungskritischen Zeitung «Today’s Zaman».

Die Ermächtigung der Telekom-Behörde, Websites nach eigenem Gutdünken zu sperren, sei ein Verstoss gegen die Gewaltenteilung, meint der Politiker. Er kritisiert auch, dass die Gesetzesänderung von der Regierungspartei in letzter Minute spätabends eingebracht wurde: Das seien «Gestapo-Methoden». Auch für Dogan Akin, Chefredakteur des Internetportals «T24», offenbart die geplante Internetkontrolle eine «totalitäre Gesinnung».

Erdogan steht auf Kriegsfuss mit dem Internet

Nach der Verabschiedung durch das Parlament muss das neue Gesetz nun noch von Präsident Erdogan unterschrieben werden, bevor es in Kraft treten kann. Aber das ist nur eine Formalität. Erdogan steht ohnehin mit dem Internet auf Kriegsfuss, seit regierungskritische Demonstranten im Sommer 2013 ihre landesweiten Proteste auf Twitter koordinierten.

Im Dezember tauchten dann im Videoportal YouTube Mitschnitte angeblicher Telefonate Erdogans auf, die seine Verwicklung in Bestechungsaffären belegen sollten. Erdogan liess daraufhin Twitter und Youtube sperren. Die Verbote wurden später vom Verfassungsgericht aufgehoben, was Erdogan zu scharfer Kritik an der Justiz veranlasste.

Soziale Netzwerke sind für den türkischen Präsidenten wie das «Messer eines Mörders». Dienste wie Twitter und Facebook, sagte Erdogan vergangenen Monat auf einer Parteiversammlung in Ankara, «vernichten Menschenleben».

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