In Frankreich wächst die Kritik am Ausnahmezustand

Die französische Polizei hat über 2000 Hausdurchsuchungen vorgenommen und über 200 Personen verhaftet. Diese Einsätze gelten keineswegs nur der Terrorbekämpfung.

French police officers patrol near a man disguised as Santa Claus during the start of the traditional Christkindelsmaerik (Christ Child market), known as the oldest French Christmas market, in Strasbourg, France, November 27, 2015 as the security measures in public places is reinforced after recent deadly attacks in Paris. REUTERS/Vincent Kessler

(Bild: VINCENT KESSLER)

Die französische Polizei hat über 2000 Hausdurchsuchungen vorgenommen und über 200 Personen verhaftet. Diese Einsätze gelten keineswegs nur der Terrorbekämpfung.

«Die Freiheiten einschränken, um die Freiheiten zu schützen»: Mit diesem Motto begründet Premierminister Manuel Valls den nationalen Ausnahmezustand. Präsident François Hollande hatte ihn nach den Terroranschlägen in Paris dekretiert und liess ihn dann durch das Parlament auf drei Monate verlängern. Kernpunkte sind ein weitgehendes Demonstrationsverbot sowie die Befugnis der Polizei, ohne richterliche Vollmachten zu handeln.

Wie genau das geht, schilderte der Wirt des Restaurants «Pepper Grill» im Pariser Vorort Saint-Ouen-l’Aumône. Ohne jede Vorwarnung drangen an einem Abend mehrere Dutzend schwer bewaffnete und ausgerüstete Spezialpolizisten in das Lokal ein und befahlen den 40 Gästen, die Hände auf die Tische zu legen. Ohne Verzug brachen sie mit Äxten drei Türen auf.

«Zu zweien hätte ich ihnen die Schlüssel geben können, aber sie fragten nicht danach», sagt Ivan Agac, der 28-jährige Wirt des kulinarisch sehr vielfältigen Restaurants, hinter dem sich ein kleiner Gebetsraum befindet. Agac vermutet, dass die Polizisten davon gehört hatten. Nach ihrer Durchsuchung, bei der sie alle Ordner auf den Boden warfen, verabschiedeten sie sich mit «bonne soirée», ohne etwas zu beschlagnahmen oder jemanden festzunehmen.

Der Innenminister nennt nur Zahlen – keine Motive

Das ein Beispiel von vielen. Der Sprecher des Innenministeriums, Pierre-Henry Brandet, erklärt allgemein: «Nur weil man nichts findet, ist eine Hausdurchsuchung noch nicht ungerechtfertigt.» Schon über 2000 Mal drangen Polizisten in Wohnungen, Büros und Häuser ein. 250 Personen wurden zumindest vorübergehend festgenommen. 320 erhielten Hausarrest. 280 Waffen, darunter laut Regierung 30 «Kriegswaffen», wurden sichergestellt.

Gehörten sie allesamt Radikalislamisten oder gar Terroristen? Innenminister Bernard Cazeneuve schweigt sich dazu aus. Er nennt nur – ständig höhere – Zahlen, keine Motive. Tausend Personen wurden vom Zoll schon an der Einreise nach Frankreich gehindert. Es dürften in der Mehrheit militante Umweltaktivisten gewesen sein, die an die Klimakonferenz in Paris wollten. Zwei Dutzend Umweltschützer wurden in Frankreich selbst mit Hausarrest belegt.

«Die Exekutive vermittelt den Eindruck, dass sie sich über einen Teil des Rechtsstaates hinwegsetzen will.»


Rechtsprofessor Gilles Guglielmi

Dazu beschlagnahmte die Polizei in 160 Fällen Drogen, noch häufiger Bargeld. An einem Ort wurde eine nächtliche Ausgangssperre für Jugendliche verhängt, an einem anderen ein Alkoholverbot nach 20 Uhr. Ist das Terrorbekämpfung?

Der Pariser Rechtsprofessor Gilles Guglielmi wirft der Regierung vor, darüber hinaus zu handeln. Mit den massiven Hausdurchsuchungen verletze sie den Geist des Ausnahmegesetzes, das sie selber habe verabschieden lassen. Nachdem Paris den Europarat in aller Diskretion informierte, dass Frankreich die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK nicht mehr voll einhalten könne, sagt Guglielmi: «Die Exekutive vermittelt den Eindruck, dass sie sich über einen Teil des Rechtsstaates hinwegsetzen will.»

Ausnahmezustand soll auf sechs Monate verlängert werden

Die Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon wirft Hollande vor, er handle aus wahlpolitischen Rücksichten gleich wie die Bush-Administration nach «Nine Eleven». Kritik gibt es auch in den Medien: Auf dem Newsportal «Mediapart» finden sich Beiträge wie «Vom Ausnahmezustand zum Polizeistaat».

Solche Stimmen bleiben aber minoritär. Die Parti Socialiste (PS) versucht einigermassen verlegen, die Vorgaben aus dem Elysée-Palast zu rechtfertigen. «Man kann sich nicht den Luxus leisten, in Paris Schläger zu tolerieren, während die Ordnungskräfte für die Sicherheit nach den Attentaten und die Klimakonferenz mobilisiert sind», sagte PS-Sprecherin Annick Lepetit nach den Ausschreitungen vor der Klimakonferenz.

Die bürgerliche Rechte übt – wenige Tage vor den Regionalwahlen – keine Kritik an dem Ausnahmerecht. Sie weiss so gut wie Hollande, dass die Bevölkerung sämtliche Sicherheitsvorkehrungen der letzten Tage mit grossem Umfragemehr gutheisst. Der sozialistische Präsident will nun sogar die Verfassung ändern, um den Ausnahmezustand nicht nur wie heute möglich um drei, sondern um sechs Monate verlängern zu können. Die Zeitung «Le Parisien» fragt vorsichtig, ob das auf einen «dauernden Ausnahmezustand» hinauslaufe.

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