Erfahrungen anderer Staaten und aus anderen Zeiten zeigen: Wenn der Erfolg von Volksabstimmungen von Beteiligungsquoren, Zustimmungsquoren oder anderen «Supermehrheiten» abhängig gemacht wird, schmälert das die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger und stellt ihre Gleichwertigkeit in Frage.
Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte die deutsche Linke die in der Revolution entmachteten Fürsten auch noch zu enteignen. Ihr Vermögen sollte zur Finanzierung der Folgen des von ihnen massgeblich verantworteten Krieges genutzt werden. Weil im Parlament der Weimarer Republik ein solcher Vorschlag aussichtslos war, lancierte die Linke ein entsprechendes Volksbegehren. Nicht weniger als zwölfeinhalb der insgesamt 39,4 Millionen Stimmberechtigten unterzeichneten im Frühjahr 1926 innert weniger Tage.
Doch für den Abstimmungssonntag am 20. Juni 1926 liessen sich die Fürsten eine Finte einfallen, um das populäre Anliegen zu Fall zu bringen. Im Umfeld der Abstimmungslokale stellten sie unzählige Zelte auf und schenkten Gratisbier aus. Hunderttausende der verarmten und teilweise einkommenslosen Bauern, Handwerker und Arbeiter liessen sich dieses Angebot nicht entgehen und manche frönten der kostenlosen Tranksame so sehr, dass sie nicht mehr in der Lage waren, den Weg an die Urne fortzusetzen.
Bierzelt schlägt Stimmlokal
Damit war der Plan der Fürstenfreunde aufgegangen. Denn argumentativ hatten sie keine Chance, die Not leidenden Bürgerinnen und Bürger von einem Nein zu überzeugen. Da war es einfacher, die Chance zu packen, welche das Weimarer Abstimmungsverfahren Reformgegnern bot. Denn dieses verlangte, dass für rechtsgültige Verfassungsrevisionen 50 Prozent der Stimmberechtigten an der Abstimmung teilzunehmen hatten.
Zwar stimmten im Juni 1926 14,5 Millionen Deutsche für die Fürsten-Enteignung und nur etwas mehr als eine halbe Million dagegen – doch zu viele waren zuvor in den Bierzelten hängen geblieben, so dass nur 39,3 Prozent der Stimmberechtigten sich beteiligt hatten – gut zehn Prozent zu wenig. Das «Fürstenbegehren» wurde verworfen, obwohl 96 Prozent der Stimmenden ihm zugestimmt hatten.
«Bleibt zu Hause, so gewinnen wir!»
Solch schlechte Erfahrungen mit «Beteiligungsquoren» hinderten das italienische Parlament Anfang der 1970er-Jahre nicht daran, sie seinerseits für alle Volksabstimmungen vorzusehen, zu denen italienische Bürgerinnen und Bürger mittels obligatorischen Verfassungsreferenden, «Parlamentsplebisziten» oder fakultativen, «negativen» Gesetzesreferenden eingeladen würden. Darunter sind Volksbegehren zu verstehen, die bestehende Gesetze ändern wollen.
Das führte in den 1990er- und 2000er-Jahren immer wieder dazu, dass Berlusconi-Regierungen sich im Vorfeld von Volksabstimmungen über populäre Referenden der öffentlichen Diskussion verweigerten und so dazu beitrugen, dass viele Italiener gar nicht bemerkten, dass ein Volksentscheid anstand, ihn folglich verpassten, so dass die Kritiker zwar die Mehrheit der Stimmenden gewannen, doch das Quorum verpassten. So gingen diese Abstimmungen verloren und manche sinnvolle Reform blieb Makulatur. Silvios Slogan lautete jeweils: «Bleibt zu Hause, so gewinnen wir!»
Eine solch dysfunktionale Regel hätte im Fussball zur Folge, dass einer, der mit einem Foul seinen Kontrahenten am Spiel hindert, zu Fall bringt oder gar verletzt, mit einem Tor belohnt, statt mit der gelben oder roten Karte bestraft würde. In einer auf Engagement und Diskussion angelegten direkten Demokratie darf Passivität oder Indifferenz nicht bevorteilt werden. Jene, die sich nicht interessieren und sich weiter nicht um das Gemeinwohl kümmern, dürfen nicht mittels eines Entscheidungsverfahrens die Engagierten, Beteiligten und Aktiven ausbremsen oder in die Leere laufen lassen können.
«Qualifizierende» Mehrheiten disqualifizieren die direkte Demokratie.
Dies gilt auch für sogenannte «Zustimmungs-Quoren» wie sie in manchen deutschen Bundesländern in Kraft sind. So werden in Bremen Volksentscheide über Gesetzesänderungen nur rechtskräftig, wenn die zustimmende Mehrheit grösser ist als 20 Prozent der Stimmberechtigten. – Bei Verfassungsänderungen muss sie sogar grösser als 40 Prozent der Stimmberechtigten sein, was bei kontroversen Themen ein kaltes Beteiligungsquorum von über 80 Prozent der Stimmberechtigten bedeuten kann. Ein Wert, der in der Schweiz in neuerer Zeit nicht ein einziges Mal erreicht wurde.
Der Wille der Gemeinschaft
Solche «qualifizierenden» Mehrheiten disqualifizieren die direkte Demokratie und haben deshalb in entsprechenden «Reformprogrammen» nichts zu suchen. Das Gleiche gilt auch für den Vorschlag, Gepflogenheiten der indirekten, parlamentarischen Demokratie auf die direkte Demokratie zu übertragen.
In parlamentarischen Versammlungen mag es Sinn machen zur Vermeidung von unrepräsentativen «Zufalls-Mehrheiten» in ganz wichtigen Verfassungsfragen beispielsweise Zweidrittelsmehrheiten zu verlangen. Das Gleiche in Volksabstimmungen zu tun, wäre freilich doppelt falsch. Einerseits kann sich das Volk nicht selber repräsentieren; es ist und bleibt das Volk, beziehungsweise es sind die, welche abstimmen gehen und sich beteiligen, die entscheiden.
Zweitens würde beim Erfordernis eines Zweidrittelsmehrs, das oppositionelle Drittel mehr Gewicht haben als eines der beiden zustimmenden Drittel. Das verletzt eines der Grundprinzipien der Demokratie, die Gleichwertigkeit jedes einzelnen Teilnehmenden. Oder in den schönen Worten des Rostocker Professors Egon Flaig: «Das Prinzip, mehrheitlich zu beschliessen, macht alle Teilnehmer auf radikalste Weise zu Gleichen.» Flaig erinnert an den Satz, mit dem schon der griechische Geschichtsschreiber Herodot (490–424 v. Chr.) vor 2442 Jahren die Mehrheitsregel begründet hat, mit der nicht die Wahrheit, sondern der Wille der Gemeinschaft eruiert werden solle: «Beim Mehr liegt das Ganze.»