Die Ausstellung «Wenn nicht ich, wer dann?» will die Verantwortung im gesellschaftlichen Zusammenleben fördern. Doch was bedeutet das überhaupt? Und was ist der Preis für Engagement, das über die reine Nothilfe hinausgeht?
«Wenn nicht ich, wer dann?» So lautete der Titel einer Ausstellung zum Thema Zivilcourage, die zurzeit im Historischen Museum Basel (HMB) gezeigt wird. Zu dieser Frage wollen wir hier ein paar Überlegungen anstellen. Worum geht es da? Warum erhalten wir das jetzt vorgesetzt? Was machen wir damit?
Vielleicht sollte man das Wort Zivilcourage vermeiden, aber es geht um Schulung zur Selbstschulung. Oder es geht, wie es heute gern heisst, um Sensibilisierung. Die Ausstellung zeigt Spielszenen, zu denen man Stellung nehmen und vor denen man sich mit seinen Reaktionen in die bisher abgegebenen Antworten einordnen kann: zum Verhalten bei einem Verkehrsunfall, bei Büromobbing, Vandalismus, Schlägereien und so weiter.
Betagten ins Tram helfen oder Touristen Orientierungshilfe bieten, sind keine Akte der Zivilcourage.
Es geht mehrheitlich um die Frage, wann und wie man allenfalls eingreifen soll, wenn man «Zeuge» von Konflikten wird, in denen direkt Betroffene Beistand benötigen. Im Propagieren von Zivilcourage besteht jedoch die Tendenz, den Begriff zu überdehnen und entsprechend flach zu machen. Betagten ins Tram helfen oder Touristen Orientierungshilfe bieten, sind keine Akte der Zivilcourage.
Vielleicht sind sie aber als selbstverständliche Praxis eine gute Voraussetzung für ein anspruchsvolleres Engagement. Es geht dabei nicht um Hilfe schlechthin, sondern um Hilfe, für die es etwas Mut braucht, Hilfe, die öffentlich gegen Handlungen eingesetzt wird, die eine allgemeingültige Werteordnung verletzen.
Nichtstun ist auch ein Tun
Mit unserem individuellen Handeln setzen wir uns nicht nur für einzelne Opfer, sondern auch für die Wahrung der geltenden Werte ein und stärken diese damit zugleich. Welche Werte – etwa Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen, Respektierung der Würde – uns wichtig sein sollen, wird auf vielfältige Weise von Eltern, von der Schule, den Kirchen und den Medien vermittelt.
Neuerdings werden auch spezielle Kurse in Zivilcourage angeboten. Es gibt sogar Stadtrundgänge, auf denen man mit gespielten Szenen mit der Problematik konfrontiert ist. Und jetzt sind wir auch mit dieser Ausstellung aufgefordert, «Mut zu mehr Mut» aufzubringen.
Wir sollten uns generell und sozusagen im Voraus vergegenwärtigen, dass ein solches offenbar nicht selbstverständliches Engagement nötig ist, damit im Akutfall die nötige Disposition in uns vorhanden ist. Den Rest muss man selber machen. In allen Varianten sollte man sich bewusst sein, dass Nichtstun auch ein Tun ist. Indem man etwas geschehen lässt, ist man indirekt Komplize des Täters oder der Täterin.
Gegen die Gleichgültigkeit
Es scheint indessen ein Faktum zu sein, dass aktive Anteilnahme statt passivem Zuschauen wegen der zunehmenden Anonymisierung unserer Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit (mehr) ist. In den Städten leben wir ein dichtes, aber im guten Sinn auch ohne private Aufmerksamkeit auskommendes Nebeneinander. Zudem nimmt die Zahl der Singlehaushalte zu, was ebenfalls isolierte Privatheit begünstigen könnte. Werden wir mit Krisenfällen konfrontiert, sollten wir schnell den Modus ändern und uns sagen, dass diese uns etwas angehen, obwohl sie uns scheinbar nichts angehen.
Seit 1997 vergibt der «Beobachter» den «Prix Courage». Die Entstehungszeit dieses Preises zeigt vielleicht beides: dass in jenen Jahren gesellschaftliche Gleichgültigkeit grösser geworden sein könnte und dass auch das Bestreben zugenommen hat, ihr entgegenzuwirken. Die Liste der inzwischen verliehenen Jury- und Publikumspreise des «Beobachters» zeigt die Bandbreite dessen auf, was unter Zivilcourage fallen kann.
In der bisherigen Auseinandersetzung, wie sie bei der Ausstellungseröffnung und in einer Sonntagsmatinée der GGG-Stadtbibliothek geführt worden ist, fällt auf, dass die Notwendigkeit eines persönlichen Engagements vor allem an Fällen diskutiert wird, in den es um Gewalttätigkeiten geht: um Handtaschen- und Handyraub, um sexuelle Übergriffe, um Kindsmisshandlungen. Diese Art von Tätlichkeiten fällt unter kriminelles Handeln, es ist entsprechend fassbar und wird von Medien registriert und gerne diskutiert. Da erhalten wir schnell die berechtigte Anschlussempfehlung, keinen falschen Mut zu entwickeln und unverzüglich die Polizei anzurufen.
Wie weit darf Sozialkontrolle gehen etwa beim Littering oder angesichts «undisziplinierter» Fussgänger in Anwesenheit von Kindern?
Es gibt keine Verpflichtung, jemanden vor körperlichen Verletzungen durch Dritte präventiv zu schützen. Hingegen schreibt das Strafgesetzbuch mit Artikel 128 vor, dass in unmittelbarer Lebensgefahr schwebenden Menschen im Rahmen des Zumutbaren und der vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten Nothilfe geleistet werden muss und eine Unterlassung der Nothilfe bestraft wird.
In den Diskussionen um Zivilcourage gerät eine andere Problematik ebenso schnell in den Hintergrund: die Verletzung von Mitmenschen durch unsoziales Verhalten, durch Mobbing am Arbeitsplatz, durch rassistische Herabsetzung, durch verletzende Witze. Hier ist oder wäre man umgekehrt aufgefordert, mehr Mut zu haben und nicht sogleich nach der Polizei und dem Kadi zu rufen.
Was Zivilcourage ist, bleibt aber interpretationsbedürftig. Kann es des Guten auch zu viel geben? Wie weit darf Sozialkontrolle gehen etwa beim Littering oder angesichts «undisziplinierter» Fussgänger in Anwesenheit von Kindern, für die sie eigentlich Vorbild sein sollten?
Verpfeifen oder warnen
Ein Blick auf die Wortgeschichte hilft beim inhaltlichen Auffüllen des Begriffs Zivilcourage auch nicht viel weiter. Der Sprachgebrauch ging offenbar einmal davon aus, dass im Krieg Courage vor dem Feind gefordert war, diese Tugend dann ins Zivile übertragen wurde und es dabei weniger ums Angreifen als ums Verteidigen ging und geht.
Als eine weitere Kategorie erwünschter wie nötiger Zivilcourage wird das sogenannte Whistleblowing, negativ als «Verpfeifen», positiv als Abgeben von Warnsignalen, bezeichnet. Dabei geht es um das bekannt machen von internen Missständen in der öffentlichen Verwaltung wie in Privatunternehmen. Der zurzeit bekannteste und doch langsam schon wieder in Vergessenheit geratende Whistleblower ist Edward Snowden, der ehemalige, einst in Genf stationierte US-Geheimdienstler. Seine Enthüllungen gaben Einblicke in das Ausmass der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken. Wie zu erwarten, wurde er darauf von der Spionageagentur selbst der Spionage angeklagt.
Auch die Schweiz hat ihre couragierten Whistleblower: insbesondere Malica Skrijelj, die als Metallarbeiterin gegen diskriminierende Frauenlöhne klagte und deswegen entlassen wurde, sowie Margrit Zopfi und Esther Wyler, die Unregelmässigkeiten in der Zürcher Sozialhilfe publik machten und darum ebenfalls ihre Stellen verloren. Diese beiden Engagements wurden 2002 und 2010 mit dem «Beobachter»-Preis gewürdigt.
Kaum Schutz für Whistleblower
Ein anderer, noch halbwegs bekannter Whistleblower war Christoph Meili, der 1997 die vermeintliche Vernichtung von alten Bankbelegen zu nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern durch die Schweizerische Bankgesellschaft verhindert und den Vernichtungsversuch bekannt gemacht hatte.
Die Schweiz ist im Vergleich mit dem Ausland in der gesetzlichen Regelung von Whistleblowing im Rückstand. Man bastelt bereits seit einer Weile an einem entsprechenden Gesetz. Der Bundesrat schlug vor, dass eine Meldung in der Regel nur dann zulässig sein soll, wenn sie zuerst an den Arbeitgeber und erst danach an eine Behörde erfolgt. Der Gang an die Öffentlichkeit soll nur unter bestimmten Bedingungen als letztmöglicher Weg rechtmässig sein. Im Mai dieses Jahres wies der Nationalrat die Vorlage jedoch als zu kompliziert zurück.
Da geht es um die Aufdeckung von Missständen am Arbeitsplatz und um Kündigungsschutz. Mehr kann offenbar nicht reglementiert werden. Wer auf gesellschaftliche Missstände hinweist, hat allerdings ebenfalls Sanktionen informeller Art in Kauf zu nehmen, weiche Formen der Ächtung, vielleicht sogar die Aussichtslosigkeit bei Stellenbewerbungen. Das ist oder wäre eben der Preis für Engagement.
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«Wenn nicht ich, wer dann?», Historisches Museum Basel (HMB), noch bis 31. Januar 2016.