Kürzlich wurde uns berichtet, dass sich streunende Hunde in Italien völlig unkontrolliert vermehren würden. Eine konservative Schätzung geht von rund 700’000 solchen Vierbeinern aus. Zurzeit grassieren in Italien aber auch andere unkontrollierte Erscheinungen: die zahllosen Wahlversprechen von Politikern.
Der Katalog der zirkulierenden Gelöbnisse versammelt Groteskes: Der viermalige Ministerpräsident und verurteilte Betrüger Silvio Berlusconi soll steuerfreies Hundefutter und kostenlose Besuche beim Tierarzt versprochen haben – natürlich nicht für streunende Hunde. Das Versprechen will nämlich alte Menschen ködern, die mit tierischem Leben ihre Einsamkeit erträglich machen. Auch für diejenigen, die keine Hunde haben, wird ein kostenloses Gebiss in Aussicht gestellt und für alle eine Altersrente von mindestens 1000 Euro. Womit das berappt werden soll, bleibt offen.
Die Alten sind offenbar die leichter mobilisierbaren Wählerinnen und Wähler. Und was soll die Jugend bekommen? Eine gute Ausbildung, einen soliden Arbeitsplatz?
Die Arbeitslosigkeit war schon höher, seit 2014 ist sie immerhin um 1,15 Punkte auf 11,38 Prozent zurückgegangen. Bei den unter 25-Jährigen beträgt sie aber noch immer 33 Prozent. Eine Schweizer Zeitung publizierte im vergangenen Jahr einen eindrücklichen Bericht: Auf eine Ausschreibung für eine einzige Stelle in der Krankenpflege nahmen 1100 junge Menschen an einem Auswahlverfahren in einer Turnhalle von Cremona teil.
Linke, Rechte und Sterne
Rund 51 Millionen Italiener und Italienerinnen sind aufgerufen, am 4. März ein neues Parlament und damit indirekt auch eine neue Regierung zu wählen. An der Urne entscheidet sich, welches der drei Grosslager eine Mehrheit zustande bringt und welche der Subeinheiten innerhalb dieser Lager die grösste sein wird und darum die Führung beanspruchen kann.
Ein Blick auf die Parteien in «Bella Italia» zeigt wirre Verhältnisse und verwirrt uns entsprechend. Was die inhaltsleeren Namen an Unterscheidung nicht hinkriegen, könnten vielleicht die sich ebenfalls stets ändernden Logos – meistens in den Farben grün-weiss-rot – schaffen. Ganz im Süden, auf Sizilien, versucht es eine regionale Bewegung mit dem schönen Namen #DiventeràBellissima (Sie wird schön werden) auch in Gelb.
Berlusconi selber darf gar nicht kandidieren. Wer sein Strohmann sein darf, ist nicht bekannt.
Im rechten Lager dominieren Berlusconis Forza Italia (Vorwärts Italien), was wie ein Kampfruf aus der Welt des Sports klingt, sowie die rechtspopulistische Lega mit Matteo Salvini, die den früheren Zusatz «Nord» gestrichen hat. Besonders im Süden stark sind die nationalkonservativen Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) mit Giorgia Meloni, einer 41-jährigen Römerin, die unter Berlusconi mal Sport- und Jugendministerin war. Der 81-Jährige selber ist vorbestraft und kann darum noch ein Jahr lang nicht kandidieren. Wer sein Strohmann sein darf, ist nicht bekannt.
Aus linker Position könnte trösten, dass die Kräfte der Rechten unter sich schonungslose Rivalitäten austragen und ein Führer dem anderen keine Erfolge gönnt.
Davon profitieren könnte der auf dieser Seite dominierende, sozialdemokratisch-sozialliberale Partito Democratico von Matteo Renzi und Paolo Gentiloni. Die aktuelle Regierungspartei steht eine Woche vor der Wahl mit einem prognostizierten Stimmenanteil von nur 23 Prozent an zweiter Stelle. Immerhin vor Berlusconis drittplatzierter Forza Italia.
Drei kleinere Bündnisse setzen sich wiederum aus noch kleineren Formationen zusammen, etwa Italia Europa Insieme, Più Europa oder Forza Europa. Ebenfalls zum linken Lager gehören die Liberi e Uguali (Freie und Gleiche), ein Absprengsel des Partito Democratico.
Ihr Prinzip, keine Regierungskoalition einzugehen, könnte die Fünf-Sterne-Bewegung bei einem Wahlsieg noch aufgeben.
Und dazwischen – weder rechts noch eindeutig links, aber eher linkspopulistisch – steht die Fünf-Sterne-Bewegung: der Movimento Cinque Stelle unter dem Vorsitz des Komikers Beppe Grillo (ebenfalls vorbestraft) mit dem 31-jährigen Spitzenkandidaten Luigi Di Maio. In dessen Lebenslauf steht zu lesen, dass der zweimalige Studienabbrecher Kellner, Computer-Reparateur und Platzanweiser in einem Fussballstadion gewesen sei, dann in die Politik ging und mit 26 Jahren Vizepräsident des Abgeordnetenhauses wurde.
Man stelle sich vor, Di Maio würde Ministerpräsident! Die Sterne-Bewegung hat ihre scharfe anti-EU-Rhetorik inzwischen etwas temperiert. Ihr Prinzip, keine Regierungskoalition einzugehen, könnte sie ebenfalls noch aufgeben. So hätte sie etwas davon, wenn sie – wie prognostiziert – mit 28 Prozent als stärkste Einzelpartei aus dem Rennen hervorgehen sollte.
Ohne Ernsthaftigkeit, Realitätssinn oder Anstand
Nach einem problematischen Mechanismus wird die Partei mit dem besten Wahlresultat das Mandat für die Regierungsbildung erhalten. Und siegen könnten bei dieser Wahl diejenigen Kräfte, welche die widersprüchlichsten Versprechen vorgaukeln oder ihr Programm weitgehend offen lassen und sich darauf beschränken, rabiate Parolen gegen das Polit-Establishment in die Welt zu setzen.
Aber haben sie auch das Zeug zum Regieren? Diese Frage wird dann wichtig, wenn ausgeprägte Oppositionsbewegungen – dank der momentanen Unterstützung addierbarer Unzufriedenheit aus verschiedenen Lagern – zur stärksten Kraft im Lande werden. Als Opposition kann man leicht Unvereinbares in Aussicht stellen, das man als Regierung dann nicht zusammenkriegen kann. Die «Fünf Sterne» hatten in verschiedenen Städten, insbesondere in Rom, bereits gezeigt, dass sie es nicht können.
Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich jeder mit jedem ins Bett legt, um subito ein regierungsfähiges Baby zu erzeugen.
Der von den «Grillini» geleistete Schwur, auf keinen Fall eine Regierungskoalition einzugehen, wird neuerdings relativiert. Und Berlusconi? Er hält ein Zusammengehen mit Renzi für möglich. Aber würde Renzi mit Berlusconi gehen? Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich jeder mit jedem ins politische Bett legt, um mit einer Schnell-Kopulation subito ein regierungsfähiges Baby zu erzeugen.
Die Lage ist desolat, das heisst unerfreulich, trostlos, verlassen. Verlassen wovon? Von allen guten Geistern, von Realitätssinn, von Ernsthaftigkeit und last but not least von Anstand. Wir müssen uns fragen: Wie hat es dazu kommen können? Und wie kommt Italien da wieder heraus?
Wer nicht politisiert, mit dem wird politisiert
Angefangen hat es mit dem Berlusconi-Regime 1994. Und dieser Anfang wurde möglich, weil die traditionellen Weltanschauungsparteien wie die Democrazia Cristiana eines Giulio Andreotti oder der Partito socialista eines Bettino Craxi nicht mehr in der Lage waren, vermeintliche Orientierung zu stiften. Die Stärken der neuen Bewegungen erklären sich zu einem grossen Teil aus den Schwächen der alten Parteien, die jetzt – und nicht zu Unrecht – als korrupte Eliten-Clique verhöhnt werden können.
Wie immer bei nationalen Wahlen im vereinigten Europa, kommt der EU eine gewisse Bedeutung zu. Das ferne Europa ist die schwache Autorität, die Italien davor bewahren sollte, wirtschaftliche und politische «rote Linien» zu überschreiten.
Welche Möglichkeiten haben die Bürger und Bürgerinnen? Die beiden Grossalternativen bestehen darin, sich entweder von hohlen Versprechungen verführen zu lassen oder in trister Illusionslosigkeit schon gar nicht zur Urne zu gehen. Bei aller Versuchung, sich vom Staat völlig abzuwenden und sich schlecht und recht in privaten Oasen einzurichten, sollte die Einsicht überwiegen: Wer nicht politisiert, mit dem wird politisiert.
Einmal mehr sollen die Fremden schuld an der Misere sein. Sie sind aber nicht die Ursache für die politische Misswirtschaft.
Hat man bloss die Wahl zwischen Pessimismus und Optimismus? Wie werden die irrlichternden politischen Kräfte durch Realitäten gezwungen, vernünftigere Haltungen einzunehmen? Es sind eher die guten Realitäten, die den vernünftigen Haltungen mehr Chancen einräumen: Wirtschaftliche Prosperität, Investitionen, Senkung der Jugendarbeitslosigkeit, Sicherung der Altersrenten etc.
Die schlechten Realitäten hingegen erhöhen die Erfolgschancen der politischen Rattenfänger. Einmal mehr sollen die Fremden schuld an der ganzen Misere sein. Die unaufhaltsam übers Meer kommenden Flüchtlinge sind tatsächlich eine starke Belastung für das Land, aber sie sind nicht die Ursache für die politische Misswirtschaft.
Hier in Helvetien kann man, sofern man nicht wie SP-Nationalrat Corrado Pardini über eine entsprechende Doppelstaatsbürgerschaft verfügt, bloss zuschauen und muss keine schwierigen Wahlentscheide fällen. Dabei sollte man sich aber bewusst sein, dass bei den heutigen gegenseitigen Abhängigkeiten alle von allem mehr oder weniger betroffen sind.