Jan Gehl: «Architekten wissen zu wenig über Menschen»

Hochhäuser findet er nur von Weitem betrachtet toll, Autos gehören für ihn aus der Innenstadt verbannt, und die Bevölkerung müsse in die Gestaltungsprozesse einbezogen werden: Der dänische Stadtplaner Jan Gehl war zu Besuch in Basel.

Jan Gehl (Bild: Basile Bornand)

Hochhäuser findet er nur von Weitem betrachtet toll, Autos gehören für ihn aus der Innenstadt verbannt, und die Bevölkerung müsse in die Gestaltungsprozesse einbezogen werden: Der dänische Stadtplaner Jan Gehl war zu Besuch in Basel.

Dieses Interview kann auch im Original auf Englisch gelesen werden. To the English version of this article.

Zur Begrüssung zupft Jan Gehl eine Visitenkarte aus seinem Stapel. Alle sind sie auf der Rückseite mit einem Foto bedruckt. Unsere zeigt ein gelb-rotes Tram der BLT. «This should be in Switzerland», sagt er. Die Bilder auf seinen Visitenkarten hat Gehl auf seinen zahlreichen Reisen zusammengetragen.

Denn der dänische Architekt und Stadtplaner ist vielgereist. Obwohl seine Heimatstadt Kopenhagen zu den lebenswertesten Städten der Welt gehört. Das ist auch sein Verdienst. Mit seiner Firma Gehl Architects berät er Städte rund um den Globus dabei, wie sie zu «Städten für Menschen» werden können.

Vor einigen Tagen war er in Basel zu Besuch, auf Einladung des Planungsamts. Wir treffen den 78-Jährigen auf dem Gundeldingerfeld, wo er am Abend zuvor einen öffentlichen und äusserst gut besuchten Vortrag über nachhaltigen Städtebau gehalten hat.

Herr Gehl, wie viele Schritte sind Sie heute bereits gegangen?

Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Ich habe einen Schrittzähler. Der Bürgermeister von Kaliningrad hat ihn mir geschenkt. (Er nestelt an seinen Kleidern und sucht ein kleines rotes Gerät hervor.) Oh, das kann eigentlich nicht stimmen. Anscheinend bin ich heute erst 5000 Schritte gegangen. Also muss ich noch einmal so viel gehen, um auf mein Tagessoll von 10’000 Schritten zu kommen.

Wo sind Sie heute schon überall gewesen?

Ich war mit diesen verrückten Leuten vom Planungsamt unterwegs. Sie haben mich kreuz und quer durch dieses Quartier (Gundeldingen, Anmerk. d. Red.) geführt.

Ich habe gelesen, dass Sie gerne spazieren und stets eine Kamera dabeihaben. Was fotografieren Sie damit?

Menschen hauptsächlich. Menschen, die den öffentlichen Raum nutzen. Mich interessieren aber auch besonders gelungene Lösungen planerischer Probleme. Und besonders dumme Lösungen. Ich zeige diese Bilder in meinen Präsentationen oder in meinen Büchern. In den letzten fünfzig Jahren habe ich so eine riesige Bildersammlung aus fünf Kontinenten zusammengetragen. Bilder von Menschen kann ich mir stundenlang ansehen. Bilder von Gebäuden und Autos hingegen langweilen mich sofort.

Jan Gehl

Sie haben Kopenhagen zu einer der lebenswertesten Städte der Welt gemacht. Wann fangen Sie in Basel an?

Montag hätte ich Zeit.

Hätte?

Ich benötige schon eine offizielle Einladung. Aber ich kann mir vorstellen, wie fruchtbar eine solche Zusammenarbeit sein könnte.

Welche Ratschläge haben Sie unseren Stadtplanern gegeben?

Ich gebe keine Ratschläge, wenn ich mich in einer Stadt nur knapp 24 Stunden aufgehalten habe. Ganz allgemein empfehle ich jedoch allen Städten eine systematische Erhebung und Beobachtung des öffentlichen Lebens. Genau das, was Verkehrsplaner seit Jahrzehnten tun, muss auch auf die Bewohner einer Stadt angewendet werden. Wir wissen alles über den Verkehr, aber wir wissen kaum etwas darüber, wie die Menschen eine Stadt beleben und nutzen. Es ist erwiesen, dass man sich nur um die Dinge kümmert, über die man Bescheid weiss. Meine Botschaft ist: Lernt eure Stadt zuerst kennen und verbessert sie dann wo nötig.

Ihre Formel ist sehr einfach: Je weniger Autos, desto höher die Lebensqualität. In der Realität bricht bei jedem Parkplatz, der wegfällt, ein Riesengeschrei aus.

Nur wenn es nicht Gott ist, der den Parkplatz entfernt. Wenn Gott auf Ihrer Seite ist, haben Sie keine Probleme.

Also sollen wir für weniger Verkehr beten?

Oder Sie versuchen es mit Aufklärung. Das Verkehrsaufkommen kann gesteuert werden. Eine Stadt ohne Verkehr ist gesünder, nachhaltiger und lebenswerter. Die Bewohner verstehen das, wenn sie genügend und gute Informationen dazu bekommen.

Wie ändert man Menschen und ihre Gewohnheiten? Jemand, der nicht zu Fuss gehen und das Fahrrad benutzen will, wird doch immer das Auto bevorzugen.

Soll er doch. Auf der anderen Seite wird es immer Menschen geben, denen die Umwelt und ihre Gesundheit wichtiger sind. Ziel einer nachhaltigen Stadtentwicklung sollte sein, den Anteil am öffentlichen Verkehr, der aus eigener Kraft angetrieben oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erledigt wird, langsam und stetig zu erhöhen. Unsere Erfahrung zeigt: Wenn es in einer Stadt schöne Fahrradwege gibt, werden die Menschen sie benutzen. Wenn der öffentliche Verkehr gut funktioniert, werden die Menschen Bus und Tram fahren. Verkehr verhält sich wie Wasser, er geht dahin, wo es Platz gibt. Und wenn es keinen Platz mehr gibt, versiegt er.

«Der Verkehr lässt sich am einfachsten reduzieren, wenn höhere Mächte im Spiel sind. Erdbeben zum Beispiel.»

Also ist es eine Fragen der Optionen, nicht der Regeln?

Als man in London die Innenstadtmaut eingeführt hat, reduzierte sich der Verkehr bereits tags darauf um 20 Prozent. Menschen tendieren dazu, eine bestimmte Situation für gottgegeben zu halten. Wie man in San Francisco sehen kann, lässt sich der Verkehr am einfachsten reduzieren, wenn höhere Mächte im Spiel sind. Der Embarcadero Freeway war die Hauptschlagader der Stadt. Als er durch ein Erdbeben beschädigt wurde, dachten alle, dass die Stadt sterben wird. Drei Monate später stellte sich jedoch heraus, dass es überhaupt keine Probleme gab. Dank diesem Erdbeben ist San Francisco heute eine viel schönere Stadt. Wenn wir in einer Stadt zu arbeiten anfangen, fragen wir deshalb immer: «Habt ihr Erdbeben in der Gegend, die uns dabei helfen könnten, diese und jene überflüssige Strasse loszuwerden?»

Nach Ihrer Vorlesung am Donnerstag hat jemand aus dem Publikum die Frage gestellt, wie die Bevölkerung in die Stadtplanung einbezogen werden kann. Mitwirkung ist ein heiss diskutiertes Thema in Basel.

Die Menschen interessieren sich stark für Fragen der Nachhaltigkeit. Sie wollen mehr darüber erfahren, wie die Stadt in zehn, zwanzig Jahren aussieht, wenn ihre Kinder und Enkel gross sind. Sie können gute von schlechten Alternativen unterscheiden. Mitwirkung ist gut, aber ihre Voraussetzung ist Aufklärung. Die Menschen müssen ganz genau wissen, worüber sie entscheiden können. Wenn man ohne vorherige Information der Bevölkerung verkündet, sämtliche Parkplätze zu entfernen, gibt es einen Aufstand. Ich erzähle immer die gleiche Geschichte: Meine Frau und ich feierten unseren 45. Hochzeitstag. Wir radelten Seite an Seite mit dem Fahrrad durch Kopenhagen zum Restaurant und zurück, beide waren wir rund 70 Jahre alt. Wir realisierten plötzlich, wie viel besser unsere Stadt geworden ist. Es ist ein wahnsinnig gutes Gefühl, jeden Morgen zu wissen, dass die Stadt ein wenig besser ist als am Tag zuvor. Das gibt Hoffnung für die kommenden Generationen. Gelingt es einer Stadt, dieses Gefühl zu vermitteln, werden die Planer auf wenig Widerstand stossen.

Sie haben eine urbanistische Vision. Wie verhindern Sie, dass sie durch Kompromisse zunichte gemacht wird?

Es gibt immer Kompromisse. Und natürlich hinterlassen wir nach jedem Auftrag einen fantastischen Plan, nur um dann einige Jahre später festzustellen, dass bloss 60 Prozent davon umgesetzt wurden. Das gehört eben dazu. Ich habe so viele Städte gesehen, die einen wunderbaren Wandel vollzogen haben. Ein schlechtes Beispiel ist London, wo die vielen verschiedenen Komitees noch immer über die Vorschläge beraten, die ich vor zehn Jahren unterbreitet habe. Ein gutes Beispiel ist Perth in Australien. Vor 22 Jahren habe ich dort meine Beratung angefangen. In dieser Zeit ist Perth von einer furchtbaren zu einer wunderbaren Stadt geworden. Es hat also auch seine guten Seiten, ein älterer Herr zu sein.

Weil Sie Fortschritt beobachten können?

Weil ich sehe, dass Dinge geschehen.



Jan Gehl

«Fussgänger sollten in einer Stadt wichtiger sein als Autos.» (Bild: Basile Bornand)

Sie hatten Ihre erste Begegnung mit dem menschlichen Aspekt der Architektur dank Ihrer Frau, die Psychologin ist. Sie hat Sie gefragt, weshalb Architekten nicht an die Menschen denken, wenn sie Häuser bauen. Sind Psychologen die besseren Architekten?

Nein, das denke ich nicht. Aber Psychologen sehen die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Dank der Gespräche mit meiner Frau habe ich verstanden, dass die Architektur die menschliche Dimension komplett ausblendet. In den Architektur- und Planungsschulen lernen die Studenten noch heute fast nichts über die Menschen und ihre Bedürfnisse. Erst in den Sechzigern wurden die Mauern zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen eingerissen, Türen geöffnet und Grenzen gesprengt. Nach fünfzig Jahren sehe ich endlich, wie unsere Arbeit Anklang findet. Meine Bücher wurden in dreissig Sprachen übersetzt und meine Firma ist auf fünf Kontinenten tätig.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es bei Architektur um den Raum zwischen den Häusern gehe, nicht um die Form der Gebäude. Einige sogenannte Stararchitekten würden dieser Aussage wohl vehement widersprechen.

Sollen sie doch. An einer Konferenz in London ist kürzlich ein Typ aufgetreten, der gesagt hat: «Ich bemitleide euch Architekten. Euer einziges Kommunikationsmittel ist das Bild. Alles, was man auf einem Bild sehen kan, ist Form. Deshalb kommuniziert ihr untereinander nur über Form und ihr seid alle besessen davon. Was ihr macht, ist nicht Architektur, das ist Bildhauerei.» Es geht nicht um Gebäude und Strassen, es geht um die Interaktion zwischen Leben und Umgebung. Diese Dimension der Architektur wurde von den Modernisten komplett verneint. Wir brauchen neue Paradigmen der Stadtplanung: Städte müssen lebenswert, gesund und nachhaltig sein.

«Wer oberhalb der fünften oder sechsten Etage wohnt, gehört nicht mehr zur Stadt, sondern zum Luftraum.»

Wir sind in Basel so stolz auf unsere eigenen Stararchitekten, dass sie fast jedes grössere Bauprojekt realisieren dürfen. Sie bauen dann vorzugsweise Hochhäuser.

Hochhäuser sind aus der Ferne zwar nett anzusehen und auch die Aussicht vom obersten Stockwerk ist schön. Steht man allerdings direkt daneben oder wohnt im dritten Stock, gibt es wenig Positives zu sagen über Hochhäuser. Wer oberhalb der fünften oder sechsten Etage wohnt, gehört nicht mehr zur Stadt, sondern zum Luftraum. Es gibt gute Gründe, ein Hochhaus zu bauen. Aber es muss umsichtig geschehen.

Ihre Kritik an Architektur und Stadtplanung fällt scharf aus. Wie kommt es, dass Sie trotzdem so optimistisch geblieben sind?

Ich bin zunehmend optimistisch, weil ich gesehen habe, wie viele Dinge besser und vernünftiger geworden sind. Mir scheint, wir haben einen guten Weg gefunden, die Probleme  zu lösen, die uns die Modernisten mit ihrer Autoinvasion gebracht haben. Sorgen bereiten mir derzeit vor allem die schnell wachsenden Städte der Dritten Welt. Alle diese Dinge, über die wir gesprochen haben, können auch dort angewendet werden. Denn es ist günstig, eine Stadt lebenswerter und nachhaltiger zu machen. Davon profitieren alle.

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Die TagesWoche widmet sich aktuell schwerpunktmässig dem Thema Mitwirkung, alle bisher veröffentlichten Geschichten zum Thema in unserem Dossier.

Jan Gehl

«Ich habe mein Architekturstudium 1960 abgeschlossen. Das war der Tiefpunkt der Stadtplanung»: Charmant-bissige Kommentare sind das Markenzeichen von Jan Gehl. Der 78-jährige Däne hat sich der Stadtplanung nach «menschlichem Mass» verschrieben. So hat er etwa während 40 Jahren an der Universität in Kopenhagen das Leben der Menschen in der Stadt erforscht.
Es ist massgeblich seiner Arbeit zuzuschreiben, dass Kopenhagen seit Jahren zu den lebenswertesten Städten der Welt gehört. Mit seiner Firma «Gehl Architects» berät Gehl Städte auf der ganzen Welt dabei, wie sie zu «Städten für Menschen» werden können. Dies ist auch der Titel eines Buches, das vor kurzem auf Deutsch erschienen ist.

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