Im dritten Jahr der Eurokrise müssen sich die EU-Staatschefs entscheiden: für den Tod des Euro oder für die Geburt einer neuen politischen Gemeinschaft, die «Vereinigten Staaten von Europa». Doch das gefällt den Franzosen gar nicht.
Die aktuellen Ereignisse sind ein Gradmesser dafür, wie rasant sich der politische Umgang mit der Eurokrise ändert. Vor gerade mal drei Wochen richtete sich alle Aufmerksamkeit auf den neuen französischen Präsidenten François Hollande, der in Paris als «Monsieur Wachstum» eingeschworen wurde und zugleich seinem ersten Einsatz entgegeneilte, um Sparkanzlerin Merkel herauszufordern.
«Wir brauchen neue Lösungen. Alles liegt auf dem Tisch», versprach Hollande und meinte damit, dass er Angela Merkel zwingen würde, die Nasenklammern abzulegen und Massnahmen in Erwägung zu ziehen, die in Berlin nicht gut ankommen – allen voran Eurobonds, um die Krise durch eine kollektive Übernahme der Risiken für die Schulden Spaniens, Griechenlands, Italiens und aller übrigen EU-Länder auf einen Schlag zu beenden. Die Aussichten dafür galten als eher gering.
Vor einer Woche drehte Merkel den Spiess um. Nun lag es an ihr, zu erklären, dass es angesichts der harten Entscheidungen, denen sich die europäischen Staatschefs vor dem bedeutungsschweren Gipfel Ende des Monats gegenüber sehen, keine Tabus geben dürfe. Damit schien Merkel nicht nur Hollande, sondern ganz Frankreich zwingen zu wollen, Farbe zu bekennen. Mit der Ankündigung, die To-Do-Liste der Eurozone unterliege keinen Beschränkungen, beabsichtigte sie radikale, föderalistische Schritte auf die Tagesordnung zu setzen. Die wiederum würden den stufenweisen Verlust nationaler Souveränitäten über Haushaltsbudgets, sowie Fiskal-, Sozial-, Renten- und Arbeitsmarktpolitik bedeuten. Ziel wäre es, innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre eine neue politische Europäische Union zu schaffen.
Ein Quantensprung wäre nötig
Die Vereinigten Staaten von Europa (USE) sind – zumindest für die Eurozone – wieder in der Diskussion. Bloss ging den Franzosen die Vorstellung einer solchen «politischen Union», innerhalb derer die Mitgliedsstaaten grundlegende Befugnisse an Brüssel, Luxemburg oder Strassburg abtreten würden, immer gleich mehrere Schritte zu weit. Berlin hingegen signalisiert, dass die Eurozone – wenngleich graduell – grosse integrative Schritte in Richtung einer Banken-, Fiskal- und letztlich einer Politischen Union unternehmen müsse, wenn Deutschland ausbaden solle, was es als das Versagen der anderen betrachtet.
Diese polarisierende und umstrittene Idee fand nicht immer Anklang bei Merkel, die in der Hitze der Krise nun aber keine Alternative zu sehen scheint. Im fieberhaften Bemühen, das Ziel zu erreichen, wird in den kommenden drei Wochen ein Quartett hochrangiger EU-Funktionäre von Hauptstadt zu Hauptstadt reisen, um den Rahmen des Möglichen auszuloten. Europaratspräsident Herman Van Rompuy, der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker, lange schon Chef der Eurogruppe, sowie der Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso, sollen auf dem EU-Gipfel vom 28./29. Juni einen Plan zur Integration der Eurozone vorlegen. Alle vier sind ausgesprochene Europa-Föderalisten. Noch vor dem Gipfel werden jedoch in Griechenland und Frankreich schicksalsträchtige Wahlen stattfinden, während gleichzeitig die Zeit für den spanischen Bankensektor abzulaufen scheint. Wie Finanzminister Luis de Guindos in Madrid bereits angemerkt hat – das Schicksal des Euro wird in diesen Wochen in Spanien und Italien entschieden.
Griechenland oder die spanischen Banken retten, Italien aus dem Schlamassel ziehen oder die Eurokrise rasch beenden – der derzeit erwogene Quantensprung in Sachen Integration würde das zumindest kurzfristig nicht leisten können. Den EU-Staatschefs könnte sogar die Zeit davonlaufen. Die Reserven für Risikopolitik und Last-Minute-Anrufe, die das «Krisenmanagement» der bisherigen 30 Monate geprägt haben, könnten sich erschöpfen.
Dennoch hofft man durch die Präsentation einer mittelfristigen Strategie für eine fiskalische und politische Union die Finanzmärkte zu überzeugen, dass man willens ist, den Euro zu retten. Die Auswirkungen eines Integrationsschubs wären enorm. Logischerweise bedürfte es eines neuen Europa-Vertrages. Allein das wäre nur mit grossen Mühen zu erreichen. Wahrscheinlich wäre in Deutschland eine neue Verfassung nötig, was sich dann doch als zu weitreichend erweisen könnte. Das derzeit oftmals angeführte «Demokratiedefizit» in der EU würde sich ohne radikale Inventur der politischen Führung in der Eurozone, die mehr als zuvor auf Wahlen zurückgehen müsste, exponentiell vergrössern. Welchen Sinn hätte es, etwa in Slowenien eine Regierung zu wählen, wenn in Brüssel über Steuern, Ausgaben, Renten und Arbeitsmarktpolitik der gesamten Eurozone entschieden wird?
Eine radikale Entscheidung
Das Ergebnis wäre ein viel stärker verfestigtes Europa der zwei Geschwindigkeiten, bei dem die Entscheidungen vornehmlich in der Eurozone getroffen würden, nicht in einer EU der 27. Die Kluft zwischen Grossbritannien und Europa könnte unüberbrückbar werden, nur noch gegenseitigen Missmut hervorbringen und letztendlich der unglücklichen Tändelei des Vereinigten Königreichs mit der EU ein Ende setzen. Dabei entspräche die politische Union genau dem, was Premier David Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne als «erbarmungslose Logik» einer gemeinsamen Währung empfehlen.
Im dritten Jahr des Kuddelmuddels stehen die europäischen Staatschefs vor immer drastischeren Entscheidungen – entweder für den Tod des Euro oder die Geburt einer neuen europäischen Föderation.
Quellen
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