Jetzt spricht das Volk

Gewalt, Gewalt und nochmals Gewalt: Das ist das Wahlkampfthema in Basel. Dabei hätten die Menschen noch ganz andere Probleme.

Insgesamt 14 Darsteller nehmen am diesjährigen Casting «Wahlen 2012» teil. Nur sieben werden es aber schaffen. Wen das Volk in den nächsten vier Jahren auf der Bühne sehen will, wird sich am 28. Oktober entscheiden. (Bild: Hans-Jörg Walter )

Gewalt, Gewalt und nochmals Gewalt: Das ist das Wahlkampfthema in Basel. Dabei hätten die Menschen noch ganz andere Probleme.

Basel – eine Stadt im Ausnahmezustand. Frauen werden vergewaltigt, Männer verprügelt, Alte ausgeraubt. Tag für Tag, Nacht für Nacht, immer häufiger. Basel, eine Stadt schlimmer als Sodom und Gomorrha zusammen.

Diesen Eindruck erweckt der Regierungswahlkampf. Das alles dominierende Thema ist die Gewalt. Und die angeblich lähmende Angst in der ganzen Bevölkerung.
Erfunden wurde die extrem hohe Kriminalität beziehungsweise das Thema schon vor Jahren von der SVP. Seit einigen Monaten schiesst sich auch die rechte Presse darauf ein, die «Basler Zeitung» und die «Weltwoche». Nun tun im Wahlkampf plötzlich auch andere bürgerliche Politiker so, als könne man in Basel tatsächlich nicht mehr zur Haustüre hinausgehen, ohne ein «Risiko für Leib und Leben» auf sich zu nehmen, wie das die «Weltwoche» suggeriert hat.

Praktischerweise haben jene, die den Ausnahmezustand ausgerufen haben, gleich auch noch die Lösung – eine einfache dazu. «Wir brauchen sehr viel mehr Polizisten», sagt der freisinnige Regierungskandidat Christophe Haller. Und auch sein grünliberaler Kontrahent Emmanuel Ullmann äus­sert sich neuerdings sehr ähnlich.

SVP sei das Original punkto Sicherheit 

Nun ist die SVP keine Partei, die sich ihr Thema, die Kriminalität, so einfach klauen lässt. Schon gar nicht kurz vor den Regierungs- und Grossratswahlen mit dem Showdown vom 28. Oktober. Mitte Woche schlug die SVP darum zurück, an einer Pressekonferenz in der ehrenwerten «Schlüsselzunft», wo sie ihre «Rezepte für ein sicheres Basel» präsentierte: Videoüberwachung an allen heiklen Orten, Rund-um-die-Uhr-Überwachung des Rheinbords durch eine private Sicherheitsfirma, die Verdrängung Asylsuchender aus den Quartieren, die Vertreibung der Randständigen vom Centralbahnplatz und, und, und …

Möglichst viel Kontrolle, möglichst wenig Toleranz.

Die Botschaft der SVP war klar: Wer Ruhe und Ordnung will, soll uns wählen, das Original. Und nicht irgendwelche Kopien wie Christophe Haller, der in einem unserer Blogs auch schon als «Sheriff ohne Sheriffstern» bezeichnet worden ist.

Ganz andere Probleme haben die Linken. Tanja Soland zum Beispiel, die Fraktionschefin der SP, die in einem Interview mit der «Basler Zeitung» versuchte, den Baslerinnen und Baslern die Angst zu nehmen. Soland relativierte («Es kommt äusserst ­selten vor, dass der böse, unbekannte Mann einfach aus dem Busch springt»), Soland kritisierte («Die Staatsanwaltschaft müsste sich genauer überlegen, was und wie oft sie kommuniziert und was sie dabei bei den Leuten auslöst»), und sie verwies auch noch auf andere Formen der Gewalt («In der Partnerschaft werden am meisten Übergriffe begangen»).

Sie wollte so ganz anders sein als die SVP und so kam es auch heraus: kompliziert, vieldeutig, missverständlich. Am Tag danach entschuldigte sich ihre Partei dafür öffentlich. Soland habe keinesfalls die Absicht gehabt, die Gewalt im öffentlichen Raum zu verharmlosen – und mit ihr die Schmerzen der Prügel- und Vergewaltigungsopfer, hiess es in der Mitteilung der SP.

Grenzenloser Kontrollwahn

Falls die Partei tatsächlich gehofft hat, dass sich die Debatte damit beruhigen würde und im Wahlkampf auch noch andere Probleme diskutiert werden könnten, dann war das ein gewaltiger Irrtum. Die Basler Politiker streiten sich in diesen Tagen mehr denn je um die Frage, wie sicher beziehungsweise unsicher ihre Stadt nun sei. Und vor allem: welche Sicherheit die entscheidende ist. Die subjektiv gefühlte? Oder die objektiv gemessene? Der Erkenntnisgewinn tendiert dabei gegen null, während der Kontrollwahn einzelner Politiker alle Grenzen zu sprengen droht.

In einem seltsamen Widerspruch zu dieser Aufregung steht die Befindlichkeit der Regierungskandidaten. Sie fühlen sich auf Basels Strassen sicher, wie sie in den Videointerviews mit der TagesWoche sagen – auch wenn der eine oder andere auch schon unliebsame Begegnungen hatte. Lorenz Nägelin wurde nach eigener Angabe zweimal bedroht, Baschi Dürr sogar schon einmal verprügelt. Allerdings nicht erst in jüngster Vergangenheit, in der die Gefahr angeblich so massiv gestiegen ist. Und auch nicht aufgrund eines dummen Zufalls, weil Dürr zum falschen Zeitpunkt am falschen Platz gewesen wäre. «Der Typ hatte mich in der Nase», sagt Dürr über den Mann, der ihm die Tracht Prügel verpasst hatte.

Fast noch grösser als dieser Widerspruch der Politiker ist der Gegensatz zwischen Wahlkampfgetöse und dem, was die Baslerinnen und Basler sagen. Die Kriminalität ist für sie zwar auch ein Thema – aber nur eines unter vielen. Mindestens so sehr scheinen sie der Verkehr und die steigenden Mieten zu stören.
Das sind jedenfalls die Probleme, auf die wir bei unseren Abstechern in die Quartiere und Stadtgemeinden am häufigsten angesprochen wurden.

Basel könnte glücklich sein – ist es aber nicht

Nach den vielen interessanten Gesprächen haben wir eine Liste mit den drängendsten Fragen zusammengestellt und die Politiker damit konfrontiert. Bereits bei der Auswertung der Interviews mit den 13 Regierungskanidaten hat sich gezeigt, dass sich in Basel einiges bewegt – auch zum Positiven hin. Die Schaffung von günstigem Wohnraum entspricht einem allgemeinen Konsens, ebenso die Verkehrsberuhigung in den Quartieren; umstritten sind höchstens noch die Mittel (vergleiche dazu auch die zehn drängendsten Fragen).

Basel könnte also glücklich sein. Ist es aber nicht wirklich, sagt einer, der immer wieder tief in die Seele des Baslers blickt. Und vor allem einer, der den Vergleich hat: Jacob Paxy Alumkal, der in der Clarakirche Aushilfspriester ist. «Basel ist reich, die Menschen sind aber gestresst wie ganz allgemein in der Schweiz», sagt der Karmeliter. Viele seien unzufrieden oder sogar depressiv. «Das gibt es in meiner Heimat Indien nicht – trotz der Armut.» Das Problem sieht Alumkal darin, dass den Schweizern das Urvertrauen fehle. Der Glaube, nicht nur an Gott, sondern auch an die Zukunft. «Sie haben Angst. Angst vor dem Chef, Angst, den Job zu verlieren, einfach Angst», sagt er.
Der Priester besuchte uns bei unserer Wahlkampfaktion auf dem Claraplatz. Und seine Worte gehörten vielleicht zu den aussergewöhnlichsten, die wir auf unserer kleinen Reise durch die Quartiere gehört haben.

Interessanterweise kam dieses beklemmende Gefühl, diese Zukunftsangst, danach auch in den Interviews mit den Regierungskandidaten zum Ausdruck. Mit Christophe Haller zum Beispiel, der ansonsten am liebsten über Gewalt zu sprechen scheint, auch wenn er selbst keine Angst auf der Strasse hat, wie er sagt. Umso mehr Sorgen bereitet ihm die wirtschaftliche Krise in Europa. «Ich befürchte, dass es auch uns in Basel bald weniger gut gehen könnte», sagt er im Videointerview.

Noch lebt Basel gut von und mit der Wirtschaft, doch wie lange noch? Diese Frage beschäftigt auch den anderen FDP-Kandidaten Baschi Dürr. Seine Antwort: «Es gibt Leute, die glauben, Roche und Novartis sind ja sowieso da. Das ist sehr gefährlich», sagt er. «Wir müssen dringend attraktiver werden, und ein wichtiger Punkt sind dabei die Steuern.»

Doch reicht das, um die Unternehmen auch langfristig in Basel zu halten? Oder anders gefragt: Kommt die Politik der Wirtschaft vielleicht schon jetzt zu weit entgegen, den Grossunternehmen vor allem, die Milliardengewinne erzielen, während ganze Staaten vor dem Ruin stehen und auch die Schweizer Kantone wieder finanzielle Probleme bekommen? Auch über diese Fragen haben wir mit den Menschen in Basel geredet. Und die Antworten waren teilweise sehr deutlich – und sehr anders als jene von Baschi Dürr. «Die grossen Konzerne haben schon längst das Sagen. Vor ihnen haben auch die Politiker Schiss», sagte uns eine Frau ebenfalls auf dem Claraplatz.

Ohnmächtige Politiker

Überhaupt: Die Politik und ihre Grenzen, ihre teilweise Ohnmacht. Dieser Punkt wird auch von den Politikern selbst immer wieder angesprochen, weil das Volk offenbar viel zu viel will. Widersprüchliches auch.

Mehr Kultur und mehr Leben auf der Strasse, mehr Freiräume – und gleichzeitig auch mehr Ruhe. Mehr Platz für Velos, für Fussgänger – und bitte auch für die Autos, das alles und am liebsten noch viel mehr auf 37 Quadratkilometern Basel-Stadt. Das ist unmöglich, nicht zu schaffen, auch nicht mit 1000 neuen Gesetzen und Verordnungen. Das sagen ausgerechnet jene, die ständig neue Gesetze erarbeiten. Die Politiker.

«Wir können zwar einiges unternehmen, um die Quartiere zu beleben. Am Schluss liegt es dann aber doch an den Anwohnern.» Sie müssten den zusätzlichen Lebensraum nicht nur beanspruchen, sondern auch nutzen, sagt Carlo Conti (CVP). Und der grüne Regierungspräsident Guy Morin ergänzt: «Wir wollen eine lebendige, lebensfreudige Stadt, in der die Menschen aber auch zur Ruhe kommen können. Dadurch entsteht ein Konflikt, der ausgetragen werden muss – von der Bevölkerung, und nicht nur von der Politik.»

Und auch andere Probleme würde das Volk nach Ansicht der Politiker am besten selbst lösen: der ewige Streit zwischen Fussgängern, Auto- und Velofahrern, der Abfall auf dem Boden, das Aussterben der kleineren Läden. Alles Probleme, die sich nur mit etwas mehr «Selbstverantwortung», «Rücksicht» und «Konsequenz» lösen lassen, wie fast alle Politiker sagen, selbst wenn sie sich als antiquiert bezeichnen (wie Christoph Eymann, LDP) und sich beim Hinweis darauf «furchtbar alt vorkommen» (wie Eva Herzog, SP).

Mehr Mut, mehr Lockerheit und Chaos!

Etwas lockerer sehen das die weniger etablierten Kandidaten. Sie, die nicht einfach mehr Kultur fordern, sondern diese auch machen. Die in den Trendquartieren leben, über die die anderen in ihren schönen Büros und Einfamilienhäuschen nur reden. Es sind die wilden Kandidaten wie der bekannte Sänger und Gitarrist Elia Rediger (The bianca Story). Oder Chrigel Fisch, der Hausmann, Kulturveranstalter und ehemalige «Nebelspalter»-Journalist. Und schliesslich Christian Mueller, Spitzenkandidat des Freistaates Unteres Kleinbasel. Ihnen nimmt man es noch tatsächlich ab, wenn sie wie Elia Rediger unter dem Motto «Dancing People are never wrong» mehr Mut und mehr Lockerheit versprechen (und ganz nebenbei auch noch ein Chaos).

«Politicians are never wrong»

Nüchtern betrachtet, ist ein Regierungspräsident Rediger allerdings ähnlich gut vorstellbar wie die siebenköpfige Regierung als Band, die mit der Scheibe «Politicians are never wrong» einen Hit landet. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass die sechs Regierungsräte, die erneut kandidieren, erneut gewählt werden und damit der Politik erhalten bleiben.

Den siebten Sitz dürften der liberale Dürr und Scharfmacher Haller unter sich ausmachen – und allenfalls auch noch der Grünliberale Emmanuel Ullmann, der von allem ein bisschen ist. Sie, die wenigstens im Wahlkampf ein bisschen um Originalität bemüht sind und mit dem Wahlvolk Bier trinken (Dürr) und Fähri fahren (Ullmann). Oder wenigstens ein paar grosse Sprüche klopfen (Haller). Nach einer Wahl wäre wohl wieder Schluss damit. Dann würde sich jeder der drei wieder brav in den Konsensstaat Basel einfügen und sich dem Kollegium anpassen. Und die neuen Kompromisse und Gesetze, die die Verwaltung in ebenso kurzen wie regelmässigen Abständen ausspuckt, freundlich vertreten.

So läufts nun mal in Basel, wie der Neo-Politiker Elia Rediger erstaunlich rasch gemerkt hat. «Also ich würde meine Leute einfach arbeiten lassen», sagt er: «Ein schwacher Präsident und eine starke Verwaltung – das kennt man ja.»

Wir und die Wahlen

Für unsere Wahlkampfberichterstattung interessierten wir uns erst einmal weniger für die Wahlkampfparolen der Politiker als für die Anliegen der Baslerinnen und Basler. Darum haben wir verschiedene Quartiere und Riehen besucht, um dort mit den Menschen über ihre Sorgen und Freuden zu reden und regelmässig darüber zu berichten. Nach dem Abschluss unserer kleinen Reise durch den Stadtkanton haben wir eine Liste der drängendsten Probleme zusammengestellt und die Politiker damit konfrontiert – die Regierungs­-kandidaten in Videointerviews und die Grossratskandidaten schriftlich. Die ersten Gespräche mit den Regierungsratskandidaten werden wir am Montag auf unserer Website aufschalten. Im Laufe der nächsten Woche werden wir dort auch die Antworten der Grossratskandidaten veröffentlichen. Daneben ist dort auch unser Wahldossier mit allen Berichten aus den Quartieren zu finden.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.09.12

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