Kampfjets im Kinderhort

Manchmal tragen sie den Krieg mit in den Hort. Eine Reportage aus dem Basler Kurszentrum K5, in dem Kinder von Flüchtlingen lernen, was es heisst, Kind zu sein.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Manchmal tragen sie den Krieg mit in den Hort. Eine Reportage aus dem Basler Kurszentrum K5, in dem Kinder von Flüchtlingen lernen, was es heisst, Kind zu sein.

Tarik* greift in die Kiste mit den Legos und steckt Stein auf Stein, bis das Gebilde die Form einer Pistole angenommen hat. Er streckt die Spielzeug-Waffe gegen die Decke und macht Knallgeräusche: Tarik, zweieinhalb Jahre alt, schiesst auf imaginäre Flugzeuge. Dann geht er mit der Pistole in der Hand auf seine Betreuerin Santiporn Hohl-Karnsrang zu, er richtet die Waffe auf sie und drückt nochmals ab. 

Eine Episode, wie Santiporn Hohl, stellvertretende Leiterin des Kinderhorts K5, sie öfters erlebt. Mit Kindern, die den Krieg verlassen, aber nie zurückgelassen haben. Hohl arbeitet in einem Hort, der eigens für Kinder von Asylsuchenden betrieben wird. Während die Mütter im Obergeschoss des Kurszentrums im Gundeli Deutsch büffeln, lernen die Kinder im Spielzimmer Normalität. Malen, Spielen, Basteln, gemeinsam Singen. Selbstverständlichkeiten des Kindseins, zugeschüttet unter den Erfahrungen von Gewalt, Angst und Verlust.

Oft eine Kita wie jede andere: Zwei Mädchen aus Syrien malen Bilder. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Seit vier Jahren bietet das K5 den Kinderhort an, die Nachfrage nach dem Angebot nimmt zu, weil vor allem aus Syrien ganze Familien die Flucht antreten. Die Basler Sozialhilfe registriert seit einem Jahr einen Anstieg an Familien mit Kindern im Asylprozess.

Die Kosten für den Deutschkurs und den begleitenden Kinderhort am K5 übernehmen oft die Behörden. In seiner Art ist es das einzige Angebot in Basel-Stadt. Es gibt Betreuerinnen, die Arabisch sprechen, Französisch, Englisch, Italienisch. Nicht Deutsch ist der erste Schritt in der Integration, sondern das Schaffen von Geborgenheit. 

Mit einfachen Mitteln versucht das Team um Hohl, die Kinder mitzunehmen. Die Zeit im Hort ist klar strukturiert. Eine individuell angepasste Betreuung und feste Rituale wie gemeinsames Essen oder Singen sollen Halt geben. Der Rest ist vor allem Spielen: An einem Tisch sitzen zwei syrische Mädchen und malen, ein Knirps versucht, sein Spielzeugauto die Rutsche runterzuschubsen. Meistens ist es eine Kita wie jede andere.

Lange Dramen, wenn die Mama geht: Samson* aus Äthiopien und seine Mutter Senait*. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Ein Metallauto fliegt durch den Raum. Samson* hat ohne erkennbaren Grund sein Spielzeug quer durchs Zimmer gepfeffert. Eine Betreuerin weist ihn auf die Gefahr hin, dass jemand verletzt werden könnte und drückt ihm einen Stoffball in die Hand. Damit geht wildes Werfen risikofrei.

Hat der 3-jährige Samson, dessen Mutter aus Äthiopien geflohen ist, ein Problem mit Aggressionen – oder verhält er sich schlicht wie die meisten Kinder manchmal unerklärlich? Für die Betreuerinnen sei diese Frage oft schwierig zu beantworten, sagt Hohl: «Wir kennen die Geschichten der Kinder und ihrer Familien nicht. Wir wissen nicht, was sie erlebt haben.»

Intensiver Trennungsschmerz

Samsons Mutter Senait* ist auf der Mittelmeerroute in die Schweiz gelangt. Warum, ist schwierig herauszufinden, weil sie nur ein paar Brocken Deutsch spricht. Aber sie sagt, sie sei froh, hier zu sein. Ihrem Asylgesuch wurde stattgegeben, die Unsicherheit über die Zukunft ist vorerst weg. Ihrem Kind gehe es hier gut, sagt sie noch: «Wir haben genügend zu Essen und eine Wohnung.»

Als sie sich von ihrem Sohn verabschiedet, um den Deutschunterricht zu besuchen, nimmt ein kleines Drama seinen Lauf. Samson schreit und schluchzt, er klammert sich an ihr Bein. Es dauert Minuten, bis er sich wieder beruhigt hat. Trennungsschmerz gibt es in jeder Kita, «aber hier erleben wir das intensiv», sagt Santiporn Hohl.

Jedes dritte Kind aus Syrien kämpft mit psychischen Belastungen. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Auch viele Mütter täten sich schwer damit, ihre Kinder abzugeben. Hohl hat eine Erklärung dafür: «Diese Frauen haben bereits sehr viel verloren, das Kind ist manchmal das Letzte, was ihnen geblieben ist.» Bei den Kindern sei es die Fluchterfahrung, die nachwirke, weil ihnen da eingeimpft worden sei, auf keinen Fall den Kontakt zu den Eltern zu verlieren.

Für die meisten Kinder im K5 ist der Start schwierig, kommen aber auch die Fortschritte schnell. Ist ein Grundvertrauen entstanden, normalisiere sich oft das Verhalten, sagt Hohl. In schwierigen Fällen können sich die Betreuer Rat bei einer auf Traumata spezialisierten Psychologin holen.

Der Bedarf wäre immens: Eine aktuelle Studie geht davon aus, dass ein Drittel der Flüchtlingskinder aus Syrien psychisch belastet ist und jedes fünfte Kind an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

Kita-Betreuerin Santiporn Hohl: «Wir kennen die Geschichten der Kinder und ihrer Familien nicht.» (Bild: Hans-Jörg Walter)

Bei manchen Kindern tritt offen zutage, dass irgendwo etwas kaputt gegangen ist. Hohl erzählt von Kleinkindern, die teilnahmslos auf ihren Stühlchen sitzen und den Boden anstarren. Von einem Jungen, der am gemeinsamen Mittagstisch alles, was aufgetischt war, zu sich schaufelte und in den Mund stopfte. Von Kindern, die ohne Anlass zu weinen beginnen und nicht mehr zu trösten sind.

Die Anspannung hält nach überstandener Flucht erstmal an, mindestens so lange bis entschieden ist, ob Asyl gewährt wird oder nicht. Ein Gespräch mit Elana* aus dem Kaukasus, die gerade ihre beiden kleinsten Kinder in die Kita gebracht hat. Ihre beiden älteren Kinder hat sie in der alten Heimat bei ihrer Mutter gelassen. Elana wartet auf den Asylentscheid, der bis Ende Jahr gefällt werden soll. «Das Warten ist sehr schwierig», sagt sie.

Kinder, die weinen und nicht mehr zu trösten sind: schwieriger Alltag in der Flüchtlingskita. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Elana hat zwei Jahre in Italien verbracht, bevor sie in die Schweiz gekommen ist. «Dort gab es keine Arbeit, keine Hilfe, nichts», erzählt sie. Ihren Kindern gehe es in der Schweiz sehr gut, auch wenn sie die Unruhe spüren würden. «Wir wollen hier bleiben, alles was hier geschieht, ist sehr positiv», sagt Elana. In Italien war das anders. Als sie im süditalienischen Bari angekommen war, sperrte sie der Schlepper zwei Tage in eine Wohnung und liess sie erst wieder raus, als sie eine Art Lösegeld bezahlte. 

Elanas Einblick in eine Flucht, von der sie nicht erzählen will. Angetreten hat sie sie «wegen grossen Problemen». Wir fragen sie, ob sie nach den gemachten Erfahrungen wieder fliehen würde. Sie verneint. Also würde sie in der Heimat bleiben? Die vierfache Mutter schüttelt wieder den Kopf: «Ich würde …»

*Sämtliche Namen wurden geändert. Entweder um Einflüsse auf das Asylverfahren zu verhindern oder mögliche Repressalien der Heimatländer.

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