In Sachen Regierungsbildung hat Katalonien einen kleinen Vorsprung vor Spanien. Nach dreimonatigem Tauziehen wird am Dienstag Ministerpräsident Carles Puigdemont als Nachfolger von Artur Mas in sein Amt eingeführt. Der Schritt wird auch für Spanien Folgen haben.
Als am späten Sonntagabend fast alle Abgeordneten den Plenarsaal in Barcelona verlassen hatten, standen vier Politiker noch ein paar Minuten fast allein im marmorverkleideten Saal: Der scheidende Ministerpräsident Artur Mas tätschelte seinem Nachfolger Carles Puigdemont die Wange, von Parlamentspräsidentin Carme Forcadell gab es eine Umarmung und Raúl Romeva, Kopf der sezessionistischen Junts-pel-Sí-Liste («Gemeinsam für das Ja»), klopfte den Parteikollegen auf die Schulter.
Zufrieden, erleichtert und erschöpft wirkten die vier, wie ein Ärzteteam, dem gerade eine schwierige Operation am offenen Herzen geglückt war. Und tatsächlich war ihnen etwas Ähnliches gelungen.
Noch 36 Stunden zuvor schienen Neuwahlen unausweichlich. Den Pro-Unabhängigkeitsparteien hätten empfindliche Verluste gedroht.
Trennungsbefürworter in Unterzahl
Die Ergebnisse der katalanischen Wahlen im September hatten zu einem beispiellosen politischen Tauziehen geführt. Aus ihnen war Junts pel Sí zwar als stärkste Fraktion hervorgegangen; für die Wahl ihres Kandidaten Artur Mas zum Präsidenten benötigte sie allerdings die Stimmen der ebenfalls sezessionistischen CUP. Und für die CUP, eine radikal linke Gruppe, war der konservativ-liberale, bürgerliche Mas nicht nur verantwortlich für soziale Kürzungen, sondern auch als politischer Ziehsohn des in millionenschwere Korruptionsskandale verstrickten Jordi Pujol nicht tragbar.
Über drei Monate zogen sich die Verhandlungen hin. Junts pel Sí weigerte sich, seinen Kandidaten aufzugeben, die CUP diskutierte intern in aufreibenden Generalversammlungen einen Positionswandel. Erst Stunden vor Ablauf der Frist zeichnete sich eine Lösung ab: Präsident Artur Mas verzichtete zugunsten seines Parteifreundes Carles Puigdemont, bis dato Bürgermeister von Girona, auf das Amt.
Im Gegenzug garantiert die CUP, dass zwei ihrer Abgeordneten bei tragenden Entscheidungen gemeinsam mit Junts pel Sí stimmen. Bei Lichte besehen ist das für die radikale Linke ein Kuhhandel; für Junts pel Sí ein Abkommen, das Regierungsstabilität garantiert – und die Umsetzung der ehrgeizigen «Marschroute», die Katalonien binnen 18 Monaten in die Unabhängigkeit führen soll.
Die Sezessionisten haben zwar die politische, aber (noch) keine soziale Mehrheit. Ein Makel, der zum Geburtsfehler der katalanischen Republik werden könnte.
«Was wir an der Wahlurne nicht erreicht haben, konnten wir nun erfolgreich durch Verhandlungen korrigieren», brüstete sich Artur Mas auf seiner letzten Pressekonferenz als Ministerpräsident – und verwies so, nicht sonderlich elegant, auf einen wesentlichen Sachverhalt: Junts pel Sí, der Zusammenschluss aus Mas‘ bürgerlich-konservativen Convergència, den Linksrepublikanern und Vertretern verschiedener Bürgerinitiativen, entspringt dem Versuch, eine pro-sezessionistische absolute Mehrheit zu erlangen – und ist als solcher gescheitert.
Nicht nur das: Auch wenn man die Stimmen der CUP hinzurechnet, haben sich in Katalonien lediglich 48 Prozent der Wähler klar für eine Trennung von Spanien ausgesprochen. Die Sezessionisten haben zwar die politische, aber (noch) keine soziale Mehrheit. Ein Makel, der – sollte es tatsächlich so weit kommen – zum Geburtsfehler der katalanischen Republik werden könnte.
Neuer Schwung für Sezessionisten
Die paar Hundert Independentistes, die sich am Sonntag vor dem katalanischen Parlament eingefunden haben, wollen von solchen Überlegungen naturgemäss nichts wissen. Fahnenschwenkend verfolgen sie auf einer Grossleinwand – aufgestellt durch die unermüdlich agitierende Bürgerplattform Assemblea vor dem Parlament – die Debatte. Sie pfeifen das benachbarte kleine, aber lautstarke Grüppchen protestierender pro-spanischer Unionisten aus, jubeln, wenn einer der ihren im Parlament ans Rednerpult tritt.
Als Carles Puigdemont zum Präsidenten gewählt wird, skandiert die Menge: «In-, Inde-, Independència». Diese Rufe sind fester Bestandteil der politischen Folklore Kataloniens. Die Begeisterung wirkt fast ein bisschen einstudiert nach vier Jahren Dauermobilisierung ohne wesentliche politische Änderung. Doch tatsächlich kommt durch den Neuen Bewegung ins Spiel.
Kataloniens neuer Präsident wird wenig Bedenken haben, eine Trennung voranzutreiben.
Carles Puigdemont, 53 Jahre alt, ist im Gegensatz zum ursprünglich eher verhandlungsorientierten Reformer Artur Mas ein Unabhängigkeitsbefürworter der ersten Stunde. Geboren in einem Dorf in der Provinz Girona, von der Spaniens Hauptstadt Madrid kulturell so weit entfernt ist wie Moskau, studierte Puigdemont katalanische Philologie und arbeitete als Journalist, auch um so «ein katalanisches Nationalbewusstsein mitaufzubauen», wie er der Zeitschrift seines Heimatdorfes verriet.
Als Katalonien 2008 über sein neues Autonomie-Statut abstimmte, enthielt sich Puigdemont der Stimme. «Mir war schon damals klar, dass Katalonien sich nur als eigenständiger Staat weiterentwickeln kann. Alle Versuche, Spanien zu modernisieren, gingen von Katalonien aus – und sind doch gescheitert», sagte er in einem Gespräch vor den Wahlen. Tatsächlich wurde die nachträgliche Beschneidung des Autonomie-Status für viele bis anhin eher pro-spanische Katalanen zum Wendepunkt.
Als Präsident der Vereinigung der Kommunen für die Unabhängigkeit hat der Bürgermeister mit der Pilzkopffrisur die Unabhängigkeitsbewegung vorangetrieben, durch den Ausbau einer eigenen katalanischen Finanzbehörde etwa. «Wir haben alle Szenarien durchgespielt und wenn es soweit ist, werden wir ganz einfach von einem gesetzlichen Rahmen zum anderen wechseln – so wie damals Spanien nach Francos Tod», so Puigdemont mit spitzbübischem Lächeln. Einer wie er wird wenig Bedenken haben, eine Trennung voranzutreiben. Die Warnungen des noch amtierenden spanischen Premiers Mariano Rajoy, nichts Illegales zu dulden, tat Puigdemont ab: Von einem, dessen politisches Projekt gerade zu Ende gehe, lasse er sich nichts sagen.
Schwierige Verhandlungen in Madrid
Auch auf nationaler Ebene könnte der streitbare Katalane die Regierungsbildung beschleunigen. Die Wahrung der «unverbrüchlichen Einheit Spaniens» ist das Thema, mit dem der konservative Präsidentschaftskandidat die liberale Bürger-Partei Ciudadanos und die Sozialdemokraten mit ins Boot holen will. Eine Koalition haben zwar beide Parteien ausgeschlossen, aber im zweiten Wahlgang würde Rajoy für eine Minderheitsregierung eine Stimmenthaltung seiner Kontrahenten genügen.
Ciudadanos-Chef Albert Rivera, selbst Katalane und vehementer Gegner einer Abspaltung, hat dem Premier bereits seine Unterstützung zugesichert. Oppositionschef Pedro Sánchez verweigert sich dem bislang und drückt selbst aufs Gaspedal. Er will gemeinsame Sache mit Ciudadanos und der linken Podemos machen, der einzigen Partei, die sich klar für ein verbindliches Unabhängigkeitsreferendum einsetzt.
Kann sich das spanische Plenum auch im zweiten Wahlgang auf keinen Präsidenten einigen, spielt das den Sezessionisten in die Hände.
Ein solches Referendum wäre der sinnvollste Ausweg aus dem Dilemma und würde auch jetzt noch von einigen der in Madrid vertretenen katalanischen und baskischen Parteien mitgetragen werden. Doch ein solcher Schritt erfordert von Sánchez, der lediglich eine Verfassungsreform in Betracht zieht, einigen Mut.
Am Mittwoch tritt das spanische Plenum erstmals zusammen. Einen Premier küren die Parlamentarier aller Voraussicht nach nicht. Aber auf den Fluren wird man verhandeln und schachern. Unter Hochdruck. Im zweiten Wahlgang muss ein Präsident gewählt werden, sonst gibt es binnen zweier Monate Neuwahlen.
Es gibt in Katalonien viele, die auf ein solches Szenario setzen – und es nutzen wollen, um den Sezessionsprozess voranzutreiben, mit Carles Puigdemont an der Spitze erst recht. Aus dem kleinen Vorsprung könnte ein grosser werden.