Die Bildung einer Koalitionsregierung hat für den neu gewählten ägyptischen Präsidenten die höchste Priorität. Unklar ist, welche Kompetenzen sie haben wird.
Zeit zum Feiern blieb nicht viel. Bereits am Montag begann Mohammed Mursi Konsultationen für die Bildung einer Regierung und die Besetzung weiterer wichtiger Positionen zu führen. Ganz oben auf der Liste steht dabei Mohammed el-Baradei, der international bekannte liberale Oppositionspolitiker. Er soll eine zentrale Funktion übernehmen, zum Beispiel das Amt des Regierungschefs, und quasi der Garant dafür sein, dass breite gesellschaftliche Kreise in die neue Führung eingebunden werden.
Mursi ist schon aus der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei und der Organisation der Muslimbrüder ausgetreten, um seinem Versprechen, er sei der Präsident aller Ägypter, Nachdruck zu verleihen.
Wenig Spielraum
In seiner ersten Rede hatte er versucht, die Ängste der 48 Prozent, die ihn nicht gewählt hatten, zu zerstreuen, indem er die Rechte aller – insbesondere von Christen und Frauen – betonte und sich auch der Polizei und den Richtern gegenüber versöhnlich zeigte. Er wollte den Eindruck vermeiden, einmal an der Macht würden die vom Mubarak-Regime jahrzehntelang unterdrückten Muslimbürder nun Rache nehmen wollen.
Ganz speziell widmete Mursi seinen Wahlsieg den 850 Märtyrern der Revolution, ohne die die ersten freien demokratischen Wahlen nicht möglich gewesen wären. «Ob Mursis Sieg ein Sieg für die Revolution war, hängt auch von unserer Wachsamkeit ab», twitterte ein Revolutionsaktivist. «Engagement, nicht Furcht» riet ein der christlich-koptischen Minderheit nahestehender Kommentator jenen Ägypter und Ägypterinnen, die Morsi bisher kritisch gegenüber gestanden waren. Die Börse reagierte so euphorisch, dass der Handel unterbrochen werden musste, weil die Kurse explodiert waren und fast 8 Prozent höher schlossen.
Erkaufte Unterstützung
Der 60-jährige Ingenieur hat als neues Staatsoberhaupt nur einen engen Handlungsspielraum, der zudem nicht klar definiert ist. Der regierende Militärrat (Scaf) hat in seiner Verfassungserklärung, die er nur Stunden vor dem Ende der Stichwahl erlassen hatte, die Macht des frei gewählten Präsidenten arg beschnitten. Er steht aber auch den Revolutionsgruppen in der Pflicht, deren Unterstützung er sich mit weitgehenden Zugeständnissen «erkauft» hatte. Dazu gehören der Aufbau eines zivilen Staates sowie die Bildung einer Regierung und einer Verfassungskommission, die nicht von den Islamisten dominiert wird.
Mursi ist für alle seine weiteren Schritte auf den Scaf und die Unterstützung der Strasse angewiesen. Dieses Lavieren ist eine grosse Stärke der Muslimbrüder, wie sie in der Vergangenheit immer wieder bewiesen haben. In der letzten Woche wurde nicht hauptsächlich gezählt, sondern zwischen Scaf und Muslimbrüdern verhandelt.
Wie weit ihre Einigung gediehen ist, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Beide Seiten wissen, dass sie miteinander leben müssen. Der erste konkrete Streitpunkt ist die Vereidigung des neuen Staatsoberhauptes, die vor dem Parlament erfolgen müsste, das nun aufgelöst ist.
Der Scaf will diesen Staatsakt jetzt vor dem Verfassungsgericht abhalten. Die Muslimbrüder und auch die Revolutionsgruppen sind dagegen. Bis zum Samstag muss dieser Streit ausgeräumt sein. Die Generäle wollen unbedingt an ihrem Zeitplan festhalten und die Macht – oder was davon noch übrig ist – bis Ende des Monats an die gewählten Organe abgeben.
Obama gratuliert telefonisch
Der Sieg Mursis hat den Demonstranten wieder mächtig Auftrieb gegeben. In der Nacht zum Montag haben Zehntausende von Alexandria bis Aswan nicht nur ihren neuen Präsidenten gefeiert; die Freude war auch ein Energieschub, den Kampf für das Ende der Militärherrschaft weiterzuführen.
Mursi ist nun die einzige gewählte Institution in Ägypten und das gibt ihm eine Legitimität, die sonst niemand hat. Er ist auf schnelle Erfolge angewiesen, alle Ägypter sind 16 Monate nach der Revolution extrem ungeduldig. Mursis Wahl, als Islamist und erstmals ein Zivilist ohne militärischen Hintergrund, hat aber jetzt schon historische Dimensionen, die sich zum Beispiel in der telefonischen Gratulation von US-Präsident Obama ausdrückt.