Nach der «Blutnacht von Kiew» standen am Mittwoch einige hundert Polizisten den rund zweitausend bewaffneten Maidan-Aktivisten gegenüber. Die Demonstranten wollen endlich Ergebnisse, zur Not mit Gewalt.
An ihrem 90. Tag hat sich das Epizentrum der ukrainischen Proteste dorthin zurückbewegt, wo sie im November begonnen hatten: Rund um die Unabhängigkeitssäule auf dem Maidan, auf deren Spitze eine Statue einen goldenen Kranz in die Höhe hält, verschanzen sich einige Dutzend Polizisten. Quer über den Platz, auf dem bereits über Wochen Borschtsch und Tee gekocht wurden, ist in der Nacht zum Mittwoch eine neue Front entstanden.
Einigen hundert Polizisten stehen am Mittwochnachmittag den 2000 bewaffneten Maidan-Aktivisten gegenüber. Geschäfte, Banken und Cafés im Umkreis von einem Kilometer sind geschlossen, die gesamte Kiewer Metro fährt am Mittwoch nicht. Es herrscht ein nicht erklärter Ausnahmezustand. Die Polizei kontrolliert die Situation, hält die Maidan-Aktivisten in Schach.
Molotowcocktails gegen Gummigeschosse
Die Demonstranten werfen Steine, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails, die Polizei antwortet mit Blendgranaten und Gummigeschossen. Von der Bühne erklingen Gebete von Priestern und verzweifelte Aufrufe zur Verteidigung. Der Ruf «Kiew erhebe Dich» schallt über den Platz.
Am Montag war eine Amnestie in Kraft getreten, die Janukowitsch-Regierung hatte alle inhaftierten Protestler freigelassen. Doch das reichte der Opposition nicht: Am Dienstag war der von der Opposition als «friedlicher Marsch» aufs Parlament angekündigte Demonstrationszug in eine blutige Strassenschlacht gemündet. Dabei wurden nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums 16 Demonstranten und neun Polizisten getötet. Das Umzingeln des Parlaments von allen Seiten sollte die Abgeordneten der Regierungspartei dazu zwingen, endlich einen Antrag über die Rückkehr zur Verfassung von 2004 abzunicken.
Janukowitsch gibt der Opposition die Schuld an der Gewalt
Ein Einknicken vor der so aufgebauten Drohkulisse wäre einer Kapitulation gleichgekommen. Also schlug die Staatsgewalt brutal zurück und trieb die Demonstranten zurück auf den Maidan. Präsident Viktor Janukowitsch beschuldigte im Fernsehen die Opposition, mit dem Aufruf zum «Marsch auf das Parlament» eine Grenze überschritten und die Gewalt provoziert zu haben. Bei einem Treffen forderte er die Oppositionsführer auf, die Menschen endlich vom Maidan zu holen.
Die 28-jährige Tanja aus dem Gebiet Wolhynien ist in der Nacht zum Mittwoch nach Kiew gekommen, zum vierten Mal seit Beginn der Proteste. «Ich habe den ganzen Tag ferngesehen, dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin mit Freunden losgefahren», sagt die junge Frau. Sie wühlt ein paar Meter von den brennenden Barrikaden in einem Sack, aus dem sie einen Schutzhelm zieht, den sie sich aufsetzt. «Wenn ich hier auf dem Maidan bin, hat das Leben einen tieferen Sinn», sagt sie.
Die Opposition spricht von Sabotage
War es ein Fehler der Opposition, Janukowitsch die Pistole auf die Brust zu setzen? «Es gab keine Alternative», ist Tanja überzeugt. «Die Menschen stehen seit drei Monaten hier, und sie wollen Ergebnisse. Zur Not mit Gewalt.»
Jetzt stehen die Verteidiger des Maidan mit dem Rücken zur Wand. Neben der Bühne flackert im «Gewerkschaftshaus» immer wieder das Feuer auf – die meisten Etagen sind ausgebrannt. Bis vor kurzem war das Haus Rückzugsort für die radikalsten Aktivisten wie den «Rechten Sektor». Ein Mann um die 40 mit russverschmiertem Gesicht schimpft auf die «Sabotage» von Seiten der Staatsmacht: «Die haben sich ins Gebäude geschlichen und Feuer gelegt, um uns abzulenken. Aber es wird uns nicht aufhalten.»
Die Sicht der Soldaten
Vor dem Eingang des Hotels «Ukraina» am oberen Ende des Maidan ruhen sich die Polizisten der Spezialeinheit «Berkut» sowie die Soldaten der Innenministerium-Truppen aus: Im Unterschied zu den «Berkutowzy» sind es 18, 19 Jahre alte Jungs, die ihren Wehrdienst ableisten. Ihre Gesichter unter dem Russ sind bleich, man sieht ihnen den Schrecken über die Kämpfe an, in die sie nun geraten sind.
Andrej, ein 29 Jahre alter Offizier aus Lugansk, befehligt eine Einheit dieser Wehrdienstleistenden, «Srotschniki» genannt. Ginge es nach ihm, hätten die Ordnungskräfte den Maidan am Dienstag aufgelöst, mit einer organisierten Attacke von allen Seiten gleichzeitig. Er ist seit zwei Monaten im Einsatz und will, dass alles bald zu Ende geht. «Ich kämpfe hier nicht für Janukowitsch, aber auf der anderen Seite gibt es gewalttätige Nazis, mit denen man nicht verhandeln kann.» Andrejs Einheit stand am Dienstag an der Schowkowitschna-Strasse, als sie von den Demonstranten attackiert wurde. Damit begann die Gewalt.
Ein Physiker zerhackt Pflastersteine
Dort stand zur gleichen Zeit auch Anatoli Liptuga, 64 Jahre alt, Physiker von Beruf. «Ich merkte, dass mir mein Herz Probleme machte und fuhr nach Hause. Aber die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, sondern vor dem Fernseher gesessen», sagt er. Liptuga und sein Freund Sergej Pjazko sind das Ebenbild sowjetischer Intellektueller: Beide mit Schiebermützen, Pjazko mit Vollbart und Brille. Aber seit dem frühen Mittwochmorgen tun die beiden etwas Unintellektuelles: Mit einer Eisenstange zerhacken sie abwechselnd Pflastersteine, zack, einen nach dem anderen, zack, zu handlichen Brocken, die von einer älteren Frau in einen Sack geworfen und an die Frontlinie getragen werden.
«Zwei Monate standen wir friedlich, und das Regime hat uns gesagt: Steht doch weiter. Aber es passierte nichts», erklärt Anatoli Liptuga. So rechtfertigt er auch den gestrigen Marsch auf das Parlament. Und deshalb kann er auch über die Aufrufe der europäischen Politiker, die Krise «im Rahmen der Gesetze» zu lösen, nur müde lächeln. «Dieses Regime werden wir mit irgendwelchen gesetzlichen Methoden nicht mehr los», ist er überzeugt.