Am Mittwochmorgen löste die Polizei das Protestlager am Unabhängigkeitsplatz gewaltsam auf. Tausende Polizisten demontierten Barrikaden und rissen Zelte nieder. Zufahrtsstrassen in die Innenstadt sind gesperrt, U-Bahn-Stationen geschlossen. Zwei Kiewer Flughäfen und der Hauptbahnhof wurden ausserdem wegen Bombenalarms evakuiert.
Kiews wütende Bürger lassen sich nicht von den Strassen vertreiben. Am Mittwoch peitscht Schnee über den Boulevard Kreschtschatik, Tausende stapfen zum Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, fordern den Rücktritt von Präsident Wiktor Janukowitsch. Hunderte Polizisten riegeln das Haus der Gewerkschaften ab, wo die Opposition ihr Hauptquartier eingerichtet hat. Dutzende Busse versperren die Strassen zum Regierungsviertel.
An der Marmorsäule auf dem Unabhängigkeitsplatz hält Ljudmila Walewska ihre achtjährige Tochter an der Hand. Die 35-jährige Lehrerin ist am Morgen zum Maidan marschiert, nachdem sie in den Nachrichten von der gewaltsamen Erstürmung des Platzes durch die Polizei gehört hatte. «Präsident Janukowitsch repräsentiert nicht mehr das Volk», sagt Walewska.
Am Mittwochmorgen stürmte die Polizei das Protestlager der Opposition auf dem Maidan. Dort kampierten seit fast zwei Wochen Demonstranten hinter Barrikaden. Tausende Polizisten mit Helmen und Stahlschilden schieben die Absperrungen beiseite, kesseln die Protestierenden ein, reissen Zelte nieder. Während die Polizei vorrückt, steht Sängerin Ruslana auf der von Demonstranten errichteten Bühne und appelliert an die Polizei, keine Gewalt einzusetzen. «Das ist ein friedlicher Protest», ruft die Gewinnerin des Eurovision Song Contest immer wieder ins Mikrofon. Tatsächlich geht die Miliz diesmal nicht so brutal vor wie bei der Erstürmung des Platzes Ende November – damals waren mehr als 30 Jugendliche verletzt worden. Allerdings setzt die Polizei vereinzelt Tränengas ein, 30 Demonstranten werden verhaftet.
Bombenalarm am Flughafen
Ausserdem riegelt die Polizei am Morgen die Zufahrtsstrassen zum Stadtzentrum ab, alle U-Bahn-Stationen rund um den Maidan bleiben geschlossen. Die Polizei will so verhindern, dass weitere Demonstranten in die Innenstadt kommen. Kiew im Ausnahmezustand: Wegen Bombenalarms werden am Nachmittag auch noch die Kiewer Flughäfen Zhuljani und Borispol sowie der Hauptbahnhof evakuiert.
Unterdessen halten die Protestler noch immer das Kiewer Rathaus besetzt und bereiten sich auf die Erstürmung des Gebäudes vor. Frauen und Kinder mussten das Haus, das für Besucher offen war, verlassen. Zuvor waren drei Busse der Polizei-Spezialeinheit «Berkut» vor dem massiven Stalinbau vorgefahren. Hunderte Protestler umzingelten die Busse, die daraufhin abzogen.
Die Regierung tut allerdings so, als wäre nichts geschehen. «Wir haben nur die Strassen freigeräumt», sagt Innenminister Vitaly Zachartschenko. Premier Mikola Asarow beschwichtigend: «Es werden keine Demonstrationen mehr aufgelöst.» Dennoch setzt die Regierung weiter auf Drohung: Am Mittwochnachmittag fahren zehn Autobusse der gefürchteten «Berkut»-Einheit vor dem Kiewer Sportpalast vor.
Ashton wird brüskiert
Präsident Janukowitsch verhält sich widersprüchlich. Anfang der Woche signalisierte er, die Verhandlungen über das mit der EU geplante Assoziierungsabkommen wieder aufnehmen zu wollen. Am Dienstag flog EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton zu einem zweitägigen Besuch nach Kiew, um zwischen Opposition und Regierung zu vermitteln.
«Niemand hatte erwartet, dass die Polizei ausgerechnet zuschlägt, während Ashton in Kiew ist», sagt ein ausländischer Diplomat, der namentlich nicht genannt werden will. Dies sei ein Affront gegen die Europäische Union. Zudem heize Janukowitsch die Proteste weiter an, solange er auf Gewalt setzt, so der Diplomat weiter.
Am Mittwoch ziehen Studenten der Kiewer Mohyla Akademie mit Europaflaggen zum Unabhängigkeitsplatz. Uni-Direktor Sergeij Kwit verlegte aus Protest gegen die Regierung die «Vorlesungen» nach draussen. Auch die 19-jährige Soziologie-Studentin Anne Atamas ist dabei, sie gibt sich kämpferisch: «Je mehr Polizei auftaucht, desto länger werden wir auf der Strasse ausharren.»