Einst Plattenleger in Damaskus, heute stolzer Schweizer im Aargau. Unsere Autorin hat ihren ehemaligen Nachbarn aus dem Asylheim getroffen und seine Geschichte aufgeschrieben. Stellvertretend für viele Asylgeschichten.
Ein Asylheim in einem Dorf im Aargau. Auf der einen Seite der Bahndamm, zur anderen erstrecken sich Wiese und Obstbäume. Die Schafe blöken vielstimmig und aufdringlich, auch nachts lassen sie einen nicht in Ruhe.
In welchem Dorf das Heim genau steht, möchte Yasin lieber nicht in den Medien lesen, aber eigentlich spielt es für seine Geschichte auch keine Rolle. Sie könnte überall spielen und trifft wohl auf viele Asylsuchende zu.
Yasin lernte ich kennen, als ich noch in der Nähe des Asylheims wohnte und er Bewohner war. Neulich traf ich den 35-Jährigen nun zufällig wieder und er begann zugleich in fliessendem Deutsch zu erzählen – von seiner Wohnung, seinem Job, seinem Auto, der Aufenthaltsbewilligung.
Inmitten der schwelenden Diskussionen um die Asylpolitik in der Schweiz und in Europa hat mich seine Geschichte berührt. Obwohl sie für ihn als Asylsuchender aus Syrien ein Happy-End nahm, war der Weg dorthin kein Sonntagsspaziergang.
Yasin wuchs in Syrien auf, lebte in Damaskus – und war dort ein Ausländer. Wie viele andere Kurden war er staatenlos im eigenen Land; als 2004 Unruhen und Aufstände gegen die kurdische Minderheit in Syrien ausbrachen, gab Yasin sein Geschäft auf – er war Plattenleger – und floh aus Damaskus in die Türkei. Von der Türkei verschlug es ihn nach Zypern und schliesslich landete er im Februar 2009 in der Schweiz – mit einem gefälschten italienischen Pass.
Aber weshalb die Schweiz?
«Mein Bruder und seine Frau lebten seit den 1990er-Jahren in der Schweiz», sagt Yasin und fügt hinzu: «Auch meine anderen Brüder leben hier, später kam unsere Mutter hinzu. Sie alle waren ebenso Flüchtlinge. Sie sagten: ‹Komm, die Schweiz ist gut zu uns.›»
War sie das auch zu ihm? Yasin schweigt eine Zeit lang.
«Zuerst will ich sagen: Ich bin nicht in die Schweiz gekommen, um euer Geld zu nehmen. Ich hatte ja in Syrien alles, es ging mir gut – bis zu den Unruhen, durch welche ich um mein Leben fürchten musste.»
Geflohen ist er in ein Land, von dem er sich Sicherheit und Stabilität erhoffte. Zunächst wurde er dem Kanton Aargau zugewiesen. Nachdem Yasin während acht Monaten ein Zimmer und ein Bad mit 20 anderen Flüchtlingen teilen musste, gab es einen Zwischenfall mit einem Mitbewohner. «Er zettelte eine Schlägerei an und mir wurde die Schuld in die Schuhe geschoben.» Yasin wurde in das Asylheim verlegt, in dem ich ihn kennengelernt habe.
Am neuen Ort wohnten nur vier Männer in einem Raum – das schmutzige Kissen und die schmutzige, kaputte Matratze, die ihm zugeteilt wurden, konnten seine Erleichterung nicht mindern. Die Tage vergingen, der Asylprozess schritt schleichend voran. Vier Jahre lang, dann kam der Bescheid: Yasin muss die Schweiz verlassen.
Zurück nach Syrien im Jahr 2013?
«Das ging doch nicht», sagt Yasin und schüttelt den Kopf, «in Syrien herrschte Krieg.»
So durfte er vorläufig bleiben und fand Arbeit, zuerst in einer Disco, dann bei einer Sicherheitsfirma in Basel. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als er sich daran erinnert, wie viel Vertrauen seine beiden Vorgesetzten zu ihm gehabt haben. «Am zweiten Tag wurde mir die Kasse anvertraut. Seit ich Syrien verlassen hatte, hat mir niemand mehr so viel Vertrauen entgegengebracht.»
Auch Yasin findet, dass es ein Flüchtlingsproblem gibt in der Schweiz – oder vielmehr ein Problem im Umgang mit Flüchtlingen.
Und schliesslich im Jahr 2014 die Wendung in seinem Fall: Weil er staatenlos und bereits seit fünf Jahren legal in der Schweiz lebte, stand ihm von Gesetzes wegen eine Niederlassungsbewilligung zu: Yasin darf bleiben.
Einen Monat nachdem er die Aufenthaltsbewilligung erhalten hatte, kam ein Brief: die Steuerrechnung über 900 Franken. Yasin lacht. «Scheint so, als ob ich wirklich in der Schweiz angekommen bin.»
Doch sein Lachen erlischt, als er sich an Angriffe auf das Asylheim erinnert.
Einmal habe ein Dealer, welcher Geld von einem anderen Asylbewerber im Heim wollte, die Fenster mit Steinen eingeworfen – mehrere Male gab es auch anonyme Drohungen aus der Bevölkerung in den Jahren von 2010 bis 2014, in denen Yasin im Asylheim lebte. Er gesteht, dass er zeitweise mehr Angst um sein Leben hatte in der Schweiz als vor seiner Flucht in Syrien.
Auch Yasin findet, dass es ein Flüchtlingsproblem gibt in der Schweiz – oder vielmehr ein Problem im Umgang mit Flüchtlingen. Er erzählt, wie er und andere Mitbewohner darunter gelitten hatten, dass sie mit gewalttätigen oder drogensüchtigen Asylbewerbern im selben Zimmer untergebracht wurden. Denn so waren sie nicht nur im selben Raum, sie wurden und werden auch in den selben Topf geworfen – zunächst bei Polizeirazzien in den Heimen, einen Schritt weiter in den Medien und am Ende in der Wahrnehmung der Bevölkerung.
«Einer, der in Häuser einbricht, Drogen nimmt oder prügelt – so einer hat nichts mit mir gemein ausser der Tatsache, dass wir beide Flüchtlinge sind. Aber der Öffentlichkeit fällt es schwer, das eine vom anderen zu trennen.»
Die Geschichte von Yasin liesse sich weitaus detaillierter erzählen – Wiederholungen von Situationen und Vorkommnissen, die nur als blosse Wiederholungen erscheinen, solange man nicht selbst drinsteckt. Die Geschichte vom Mitbewohner zum Beispiel, der verrückt geworden ist und nachts nackt auf der Strasse getanzt hat vor Verzweiflung. Der Afghane, der nicht mehr duschen wollte. Die Feindseligkeiten, die er als Kurde von anderen Flüchtlingen zu spüren bekommen hat.
Und doch sagt Yasin, er sei froh, dass er in der Schweiz ist.
Hier hat er Freunde und Familie, er hat eine Wohnung und ein eigenes Auto – Dinge, die er in Syrien nicht hatte. Und das Wichtigste: «Hier ist Frieden.»
In Syrien herrscht nach wie vor Krieg – wie ist das für Yasin?
Am Anfang habe er sich verpflichtet gefühlt, täglich die Nachrichten aus seiner Heimat zu verfolgen. Inzwischen sei er vorsichtiger geworden. Eines Tages, erzählt er, wurde eine brutale Aufnahme aus dem Islamischen Staat in Syrien gezeigt. «Ich warf mein Telefon gegen die Wand, weil mich dies so wütend und traurig gemacht hat.»
Und dennoch: Syrien war für lange Jahre seine Heimat. Was vermisst er?
Ohne zu zögern antwortet Yasin: «Meine Kindheit. Die Erinnerungen kann mir niemand nehmen.»
Doch Yasin fügt hinzu, dass es heute ein anderes Syrien ist als in seiner Kindheit. Bürgerkrieg und der Islamische Staat haben das Land, das er kannte, zerstört und ein Ende der Konflikte ist nicht abzusehen.
Ob er zuversichtlich ist, jemals wieder nachhause zurückkehren zu können? Yasin verneint. Vielleicht wird es in zehn oder fünfzehn Jahren anders aussehen, doch bis dahin müsse viel geschehen, ist er überzeugt.
Nie mehr in seine Heimat zurückkehren? Ich frage ihn, ob ihn dieser Gedanke nicht betrübt und erhalte als Antwort eine Gegenfrage.
«Würde es dich nicht traurig machen, wenn du nie mehr nachhause gehen könntest?»
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Rahel Schlagbauer lebt in Jerusalem und schreibt für die TagesWoche den Blog «Mauerblumen». Sie berichtet darin über Geschichten und Gesichter aus Israel und Palästina, um die Mauern aus Vorurteilen und Verallgemeinerungen einzureissen.