Koschere Pizzen, Gebets­fabriken und anständige Thriller

Auf dem Basler Marktplatz erinnert ein riesiger achtarmiger Leuchter daran, dass Juden im Dezember Chanukka feiern. Im jüdisch geprägten New York gehen das Lichterfest und Weihnachten seit Langem Hand in Hand.

Jahrestreffen der Chabad-Gesandten in Crown Heights/New York: Die Chabad-Bewegung schickt Gesandte in alle Welt, um Juden für das orthodoxe Judentum zu gewinnen. (Bild: Julian Voloj)

Auf dem Basler Marktplatz erinnert ein riesiger achtarmiger Leuchter daran, dass Juden im Dezember Chanukka feiern. Im jüdisch geprägten New York gehen das Lichterfest und Weihnachten seit Langem Hand in Hand.

Wenn er durch Luzern gehe, sagt Chaim Drukman, passiere es ihm täglich, dass die Leute mit dem Finger auf ihn zeigten. Sie sehen einen Mann mit langem Bart, dunklem Mantel und schwarzem Hut. Drukman ist ein streng orthodoxer Jude, ein chassidischer Rabbi aus der Chabad-Lubavitsch-Dynastie. Sein Anblick ist für viele Zentralschweizer fremd. In Zürich, Genf und Basel, wo 70 Prozent der rund 18 000 Schweizer Juden wohnen, wird weniger oft auf Drukman gezeigt. Doch stellen auch in diesen Städten viele auswärtige Juden erstaunt fest, wie wenig der grösste Teil der Schweizerinnen und Schweizer über das Judentum weiss.

Dem möchten Chaim Drukman und andere Chabad-Rabbiner entgegenwirken. Im Gegensatz zu anderen ultra­ortho­doxen Strömungen sind die Chabad-Lubavitsch-Anhänger offen für nicht­religiöse Juden und Nichtjuden. Seit 60 Jahren reisen sie aus Israel oder ihrem New Yorker Hauptsitz in alle Winkel der Welt, um Juden ihre Religion näherzubringen. Rund 3600 sogenannte «Schluchim» (Gesandte), meist Ehepaare, haben inzwischen in 70 Ländern einen Posten aufgebaut. Auch in der Schweiz gibt es sieben Chabad-Zentren, eines steht in Basel. «Wer mehr weiss, hasst weniger», sagt Drukman.

Szenenwechsel. 13. Avenue in Borough Park, Brooklyn, New York. Wer als Mann nicht schwarz-weiss gewandet, mit Bart und Hut oder Schläfen­locken und Kippa, oder als Frau nicht mit sittsamem Rock, langen Ärmeln und Kopftuch oder Perücke durch die Strasse läuft, fällt sofort als Aussenseiter auf. Hier schlägt das Herz der jüdisch-chassidischen Szene New Yorks. Nirgendwo in den USA findet sich eine dichtere ultraorthodoxe Gemeinschaft, ist die Vielfalt jüdischer Strömungen grösser als im Stadtteil Brooklyn – mit Ausnahme von Israel selber.

Abgeschlossene Welt aufgebaut

Koschere Pizza-, Chilli- und Fallafel­beizen säumen die Hauptstrasse von Borough Park, Geschäfte verkaufen Silbergeschirr für jedes Ritual, koschere Kleidung, frischen Fisch oder Zeitungen in Hebräisch und Jiddisch. Im Warenhaus Eichler’s gibt es alles – vom ­jüdischen Brettspiel «Mitzvah Millionaire» über für Orthodoxe zuträgliche Thriller bis zu sämtlichen Abenteuern von Uncle Moishy in Buch- und CD-Form. In einer «Minyan-Factory», einer Gebetsfabrik, ist es für Männer jederzeit möglich, zu zehnt in einem Raum zu beten – drei Mal täglich ist dies Pflicht.

Es ist Freitag, alle machen sich bereit für den Schabbat-Abend, der an diesem Dezemberabend exakt um 15.59 Uhr mit dem Sonnenuntergang beginnen wird. Die Männer kaufen Blumen für ihre Frauen, die Frauen kaufen noch ofenwarme Challas für ihre Familien – Zöpfe ohne Butter. Wie in weiteren Brooklyner Quartieren hat die ultraorthodoxe Gemeinde sich hier, ganz in der Nähe von Künstlern, Bohemiens und Hipstern, eine abgeschlossene Welt aufgebaut. Hier funktioniert alles nach den 365 Verboten und 248 Geboten, die sich aus der Torah, dem Kern des alten Testaments, sowie diversen Religionsgesetzen herauslesen lassen.

Streng orthodoxe Menschen, Gemeinden und Quartiere sind hier Teil des Alltags. Gemäss letzter Volkszählung leben rund zwei der insgesamt 5,4 Millionen US-Juden in der Metropolitanregion New York. Laut Schätzungen von Sergio DellaPergola von der Hebrew University of Jerusalem leben landesweit 600 000 bis 700 000 Juden orthodox, der grösste Teil in Brooklyn.

Die ersten hier ansässigen Juden sind um die vorletzte Jahrhundertwende vom ursprünglichen Judenviertel, der Lower East Side in Manhattan, hierhergezogen, um grös­sere und erschwinglichere Wohnungen zu beziehen. Anfänglich pendelten viele dieser Juden zum Einkaufen, Arbeiten und für Synagogenbesuche in die Lower East Side, das ist längst nicht mehr nötig.

Die meisten jüdischen Emigranten kamen zwischen 1880 und 1924 aus Osteuropa. Vor allem russische Juden flohen vor Pogromen und bitterer Armut. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Holocaust-Überlebende; rund 100 von ihnen, inzwischen hochbetagt, treffen sich bis heute in einem Gemeindezentrum in Borough Park.

Menachem Kaiser und ein Freund von ihm, der nicht genannt werden will, führen mich an diesem Freitag durch das Quartier. Menachem trägt Alltagskleidung, aus Höflichkeit hat er heute seinen Kopf mit einer Baseball-Mütze bedeckt; er ist Jude und interessiert sich für die Kultur und Traditionen seiner Vorfahren, aber er ist nicht religiös. Sein Freund, nennen wir ihn Shlomi, managt orthodoxe Musiker. Stolz zeigt er im Eichler’s auf die CDs einiger seiner Schützlinge. Shlomi hat seine Schläfenlocken auf halbe Länge gestutzt und diskret hinter die Ohren gesteckt, dazu trägt er eine Kippa, einen kurzen Bart und einen blauen Pullover. «Ich arbeite im Musikbusiness, ich muss ein wenig modern sein», sagt er. Als Teenager habe er sich aus Protest die Schläfen­locken und den Bart einmal ganz schneiden lassen. Heute scheint er zwischen den Welten hin und her gerissen zu sein.

Viele religiöse Gruppierungen

Menachem, Shlomi und Rabbi Drukman: drei Juden, drei komplett verschiedene Bezüge zu ihrer Religion. Es gibt unter Juden etliche Abstufungen von ultraorthodox bis säkular. Die Ultra­orthodoxen sind eine Minderheit, über deren strenge Sitten mancher modern-orthodoxe Jude den Kopf schüttelt. Derweil die meisten strenggläubigen Juden alle anderen als nicht richtige Juden wahrnehmen. Nur die Ultraorthodoxen folgen einer strengen Interpretation des Religionsgesetzes, nur sie fallen aus­serhalb ihrer Quartiere optisch auf. Für Laien mögen die Ultraorthodoxen alle gleich aussehen, doch in dieser Gruppe gibt es Dutzende von Untergruppierungen mit je eigenen Traditionen, Ritualen, Abstammungen, Dialekten und Kleidungen. Oft sind die Strömungen untereinander uneins bis zerstritten.

In Borough Park sind vor allem die ost­europäischen Bobov zu Hause, in Williamsburg die in sich geschlossenen und antizionistischen Sat­mar ungarischen Ursprungs, in Crown Heights die nach aussen offenen, aber nach innen streng orthodoxen Chabad-Lubavitsch. Diese drei zählen zu den bekanntesten Höfen des Chassidismus, eine volksnahe Bewegung, die ihren Ursprung im Osteuropa des 18. Jahrhunderts hat. Ihre Kernidee: ein gemeinschaftliches, freudiges, emotionales Erleben von Gott. Im Gegensatz dazu sind andere ultraorthodoxe Strömungen rational geprägt.

Einmal im Jahr reist Chaim Drukman nach Brooklyn zu Workshops und anschliessendem Bankett mit seinesgleichen. Der Kontrast zu seinem Leben in Luzern könnte grösser nicht sein. Hier sitzen in einer riesigen Halle an rund 145 Tischen rund 3999 weitere, die ausschauen wie er. Als einzige anwesende Frau bin ich herzlich willkommen, darf aber keinen Rabbi berühren, denn Körperkontakte zwischen Mann und Frau sind bei Ultra­orthodoxen verboten – ausser es handelt sich um die Frau, Mutter oder Grossmutter des Mannes. Nach dem Essen spielt die Musik auf, alle 4000 Chabad-Rabbiner springen auf und tanzen ausgelassen.

Die ultraorthodoxe trägt viele Züge einer heilen Welt. Die Frauen besuchen kranke und alte Menschen, die Armen bekommen Essen und Geld. Man hilft und unterstützt sich, wo man kann. Doch es gibt auch dunkle Seiten. Auch unter den Ultra­orthodoxen gibt es Fälle von sexuellem Missbrauch. Doch die Chance, dass die Täter angemessen bestraft werden, ist geringer, weil Gemeindemitglieder ungern weltliche Gremien einschalten. Lieber gehen sie mit strafrechtlich relevanten Problemen zu ihrem Rabbi. Doch findet laut «New York Times» seit drei Jahren eine Trendwende statt: Eine Rekordzahl Ultraorthodoxer hat, unzufrieden mit der gemein-d-einternen Regelung, Missbrauchsfälle der Staatsanwaltschaft gemeldet.

Politisch hat das Rabbinat ebenfalls starken Einfluss. Ein Rabbi könne, so sagen Insider, mehr oder weniger vor­geben, wie seine Gemeindemitglieder wählen sollen. Gemeindeoberhäupter und Lokalpolitiker spannen zusammen, Wählerstimmen stehen im Tausch gegen Gefälligkeiten. Ultraorthodoxe wählen eher konservativ, republikanisch – säkulare Juden eher demokratisch.

Ganz schwer haben es ultraorthodox erzogene Juden, die ein freieres Leben führen wollen. Hella Winston beschreibt in ihrem Buch «The Unchosen», wie so manche chassidische Juden sich heimlich ins Kino, die Bibliothek oder zu einem nichtjüdischen Partner stehlen. Shlomi hat Glück, seine Familie kommt offenbar mit seinen Rebellionen einigermassen zurecht.

Wer die Regeln missachtet, riskiert, von der Gemeinde geächtet zu werden. Nur wenige haben den Mut zum Ausstieg. Dieser gestaltet sich auch aus praktischen Gründen schwierig: Die meisten ultraorthodoxen Männer sind vor allem religiös ausgebildet, manche können sogar nur schlecht Englisch. Ihre Frauen, die mit weltlichen Dingen wie der Buchhaltung betraut sind, haben es da ein wenig einfacher.

Orthodoxe werden orthodoxer

Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten viel mehr Ultraorthodoxe eine weltliche Ausbildung und waren im Arbeitsmarkt integriert. Doch während mo­der­ne Juden die Torah alltagstauglich auslegen, findet bei den Ultraorthodoxen seit einigen Jahren der ­gegenteilige Prozess statt: «Die Orthodoxen werden immer orthodoxer», beobachtet etwa Ilana Abramovitch, Herausgeberin des Buches «Jews in Brooklyn». Die Toleranz der restlichen Gesellschaft ermöglicht eine gewisse Intoleranz und Distanzierung der Religiösen. Und, so scheint es von aussen, eine Ausnutzung der Frauen. Abramovitch versucht jedoch, die Welt der Religiösen aus ihrer Perspektive zu verstehen: «Ein grosser Teil der orthodoxen Frauen ist glücklich mit der ihnen zugeteilten Rolle. Alles gewinnt durch den Glauben und das Vertrauen in Gott einen höheren Sinn.»

Jetzt wird das fröhliche Chanukka gefeiert – salopp gesagt, das jüdische Pendant zu Weihnachten. An den achtarmigen Leuchtern brennt das dritte Licht. In New York stehen die Chanukka-Leuchter in Läden, Wohnblöcken und Hotels ganz selbstverständlich neben Weihnachtsbäumen, gegenüber des Plazas steht der grösste der Welt. Auch in Luzern oder auf dem Marktplatz in Basel steht ein grosser Leuchter im Stadtzentrum, aufgestellt von Drukman und weiteren Chabad-Rabbinern. Drukman sagt: «Wir möchten mit allen Menschen feiern.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23/12/11

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